Emmanuel Carrère: V13. Die Terroranschläge in Paris

Hinter dem einigermaßen mysteriösen Titel „V 13“ verbirgt sich eine Gerichtsreportage vom Feinsten: der Prozess gegen die Attentäter und Helfershelfer vom blutigsten IS-Anschlag in Europa am 13. November 2015 in Paris. Da dieser Tag ein Freitag war, wurde die Gerichtschiffre für diesen monströsen Prozess quasi folgerichtig V (für vendredi) 13.

CW: Das Buch enthält zum Teil Schilderungen brutaler Szenen.

Buch V 13 (schwarzer Hinterfgrund, weiße Schrift) fotografiert am Strand vor Meer

An diesem Freitag, dem 13. November 2015 verübten mehrheitlich aus Belgien stammende IS-Terroristen einen Triple-Anschlag in Paris. Geplant waren drei Selbstmordanschläge:

– am oder im Stade de France, wo an diesem Tag das Fußballländerspiel Frankreich gegen Deutschland stattfand

– im 11. Arrondissement – einem beliebten Ausgehviertel – gegen möglichst viele BesucherInnen verschiedener Bars und Bistros

– während eines Konzerts in den bekannten Veranstaltungsort Bataclan einzudringen, wo sich bis zu 1.500 Menschen aufhalten können

Ziel der Terroristen war es ausschließlich, möglichst viele Menschen zu töten. Das IS-Kommando bestand aus 10 Personen, von denen lediglich und wohl ungeplant zwei überlebten. Neben diesen waren noch eine Reihe von Unterstützern – ja, alles Männer – vor dem Pariser Anti-Terror-Gericht angeklagt. Die meisten kamen aus Molenbeek, einem Stadtteil von Brüssel. Das Motiv der Anschläge war allgemeine Vergeltung gegen Bombardierungen in Syrien durch französische Kampfjets.

Carrère schafft es in einer meisterhaften Art, eine spannende Beschreibung dieses Prozesses zu liefern. Er arbeitet oft mit den Stilmitteln der feinen Ironie sowie humorvollen Bonmots und er ist ein genauer Beobachter dieses zehn Monate fünf Mal in der Woche stattfindenden Ereignisses. Beschrieben werden die verschiedenen Protagonist*innen dieses Verfahrens, denen er allen seine Aufmerksamkeit widmet. Den Überlebenden, den Angehörigen der Ermordeten, den Nebenklagevertrer*innen, Verteidiger*innen, Staatsanwält*innen, aber auch den Angeklagten. Am wenigsten Raum finden die Richter*innen, was aber überhaupt nicht stört, weil es wahrscheinlich trotz der Entscheidungsmacht die unwesentlichsten Personen in dieser Inszenierung sind. Auch wenn – kleiner Spoiler – der Vorsitzende als cooler Typ gezeichnet wird, der die Berufsangabe des Hauptangeklagten – „Kämpfer des Islamischen Staates“ – souverän nach einem vorgeblichem Blick in seine Notizen mit der Bemerkung kontert: „Bei mir steht: Zeitarbeiter“.

Die Aussagen der Überlebenden – speziell aus dem Bataclan – sind nur schwer zu ertragen. Mehr als 2 1/2h wütete das IS-Kommando allein dort und angesichts dieser langen Zeit muss mensch fast froh sein, dass es im Bataclan nicht noch viel mehr Tote gab. Wie Menschen sich durch ein Meer von Blut und Leichen befreiten und ins Freie gelangten, ist harter Stoff. Der Autor ist so ehrlich, auch angesichts eines solchen Grauens die eigenen Abstumpfungsprozesse sich und den Leser*innen einzugestehen, wenn bei der 80. Zeugenaussage zum gleichen Thema nichts Neues mehr dazukommt. Das Buch ist dennoch immer emphatisch und natürlich auch parteiisch. Aber der Autor wird nie schrill, kein Furor findet den Weg in die Zeilen, keine ewige Verdammnis den Tätern. Der Tonfall bleibt angenehm deskriptiv und analytisch. Er hat Respekt vor den Verteidiger*innen und ist damit nicht allein. Einigen Angehörigen, die ihre Kinder verloren haben, widmet er besonderen Raum. Sie repräsentieren – wie anscheinend die übergroße Mehrheit der Betroffenen – eine humanitäre Gesellschaftsfraktion, deren gemeinsamer Ausdruck sich in der Parole „Unseren Hass kriegt ihr nicht“ abbildet. Eine Frau, deren Tochter im 11. Arrondissement ermordet wurde, ruft zum Abschluss ihrer Aussage den Verteidiger*innen zu, dass sie ihren Job gut machen sollen. Ein starkes Statement.

Die Angeklagten geben in diesem Prozess logischerweise nicht allzuviel von sich preis, sondern höchstens das, von dem sie sich Milde versprechen oder gar einen Freispruch. Da auch 8 von 10 Mitgliedern des eigentlichen Kommandos tot sind, gibt es unter den 14 Angeklagten auch eine erhebliche Anzahl von eher kleinen Lichtern. Mutmaßliche Unterstützer, die ihren Kumpel nach den Anschlägen aus Paris abgeholt und nach Brüssel gefahren haben, jemand der falsche Papiere besorgt hat usw. Aber auch Hardcore IS-Kämpfer, welche im März 2016 die blutigen Anschläge auf den Flughafen und die U-Bahn in Brüssel durchgeführt haben sollen.

Carrère beschreibt – für Kenner*innen der Materie vielleicht etwas zu kurz – die juristischen Möglichkeiten der Verteidigung: z.B. durch andere Interpretationen der Beweise von terroristischer Vereinigung auf lediglich kriminelle Vereinigung zu kommen, mit der Folge der viel milderen Bestrafung von letzterem Delikt. Oder dem Gericht die Zuständigkeit abzusprechen. Da Frankreich Krieg gegen die Zivilbevölkerung in Syrien führe, seien Angriffe auf französische ZivilistInnen in Frankreich zwar möglicherweise eine Straftat, würden aber vor ein Kriegsgericht gehören und nicht vor ein Anti-Terror-Gericht. Weitergehend erläutert Carrère noch das von Jaques Vergés* – jedenfalls für Frankreich – entwickelte Instrumentarium der „défense de rupture“. Das meint, das Gericht nicht anzuerkennen und dem Land, welches es repräsentiert, seine eigenen Verbrechen aus der Kolonialzeit oder anderen Kriegen vorzuhalten.

Carrère ist ein relevanter französischer Schriftsteller und Filmschaffender, übersetzt wurde das Buch meisterhaft von Claudia Hamm, wie alle anderen seine deutschen Veröffentlichungen auch und erschienen ist es – wie alles andere auch – im schönen Matthes und Seitz Verlag aus dem noch schöneren Berlin-Kreuzberg.


*Jaques Verges war französischer Rechtsanwalt, Maoist und sicherlich noch vieles mehr in seinem Leben – u.a. wohl durchdrungen von Narzissmus, Hybris und bodenloser Arroganz. Er verteidigte u.a. Klaus Barbie – den Schlächter von Lyon  (vgl. unsere Rezension von „Surazo. Monika und Hans Ertl: Eine deutsche Geschichte in Bolivien“ hier auf links-lesen.de)  – mit dem Mittel der „defense de rupture“ und setzte die Verbrechen der Nazis in Frankreich mit den Verbrechen des französischen Kolonialregimes in Algerien in Bezug.


Emmanuel Carrère: „V 13. Die Terroranschläge in Paris„, 2023, Matthes & Seitz, 275 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 25 Euro (Übersetzung: Claudia Hamm)

Links-Lesen.de-Kollektiv im August 2023