Nicolas Mathieu: Rose Royal

Gleich auf der ersten Seite der kleinen Erzählung „Rose Royal“ von Nicolas Mathieu – aufgelegt bei Hanser – wird der Buchtitel lebendig: Es tritt auf eine knapp 50-jährige energiegeladene Frau, Rose, die sich auf ihr Feierabendbier in ihrer Stammkneipe, dem ‚Royal‘ freut.

Als passionierte Kneipengängerin möchte man gerne mit dieser Rose trinken gehen und auch gerne im Royal: „Mit dem ersten Schluck löste sich etwas in ihrer Brust. Das Bier war kalt, die Zeitung schon zerlesen und unter ihrer rechten Sohle spürte sie das feste Metall der Fußstütze. Diese drei Empfindungen ergaben für sie schon eine Welt, ein annehmbares Zuhause“. Es bleibt nicht beim Kneipenroman, auch wenn die Kneipenszene recht ausführlichen Raum im schmalen Bändchen einnimmt.

Nicolas Mathieu, der uns mit „Wie später ihre Kinder“ letztes Jahr sehr begeistert hatte, ist ein ausgezeichneter Beobachter. Mit wenigen präzisen Worten und oft kurzen, fast abgehackten Sätzen gelingt es ihm, eine kleine Situation so zu schildern, dass sie symptomatisch für einen ganzen Lebenslauf steht:

Viele dieser Sätze lassen eine beim Lesen schlucken oder auch schmunzeln. Sie bilden in ihrer Gesamtmenge eine Art soziologische Gesellschaftsstudie, ohne dass dies die Romanhandlung hemmt. Im Buch „Wie später ihre Kinder“ entfaltete Mathieu ganz nebenher ein ganzes postindustrielles Kleinstadt-Milieu, das sich von Prekarität über Kleinbürgertum bis ins Aufsteigermilieu erstreckt. Beim Lesen von Rose Royal wird neben der Romanhandlung ein typisches Leben einer Angestellten im heutigen Frankreich erlebbar. Und dazu gehören – zumindest bei Rose – auch Gewalterfahrungen durch Männer, was laut Statistiken für Frankreich aktuell ein eher stärker werdendes oder stärker wahrgenommenes Problem ist. Gewalt gegen Frauen bis hin zu Femiziden brachten dort zuletzt 2019 viele Zehntausende auf die Straße. Unter Slogans wie #NousToutes oder ‚Balance ton porc‘ (zu übersetzen etwa mit ‚Verpfeif‘ Dein Schwein‘) protestierten sie gegen diese gewalttätigen Zustände und gegen Sexismus. Insofern ist „Rose Royal“ ein politisches Buch, das nah dran ist an einem Phänomen, das gleichzeitig brutal wie alltäglich ist. Aus der Erfahrung der Alltäglichkeit männlicher Gewalt zieht Rose eine Konsequenz: sie besorgt sich im Internet eine Waffe, um nicht mehr wehrlos zu sein. Den Revolver trägt sie immer bei sich, zum ersten Mal setzt sie ihn im Royal ein – und lernt dabei einen Mann kennen, mit dem sie anschließend eine Beziehung beginnt.

Nicolas skizziert ganz wunderbar, wie Rose – von deren Vergangenheit wir fast nichts erfahren – sich nach und nach immer weiter aus ihrer bisherigen Unabhängigkeit herausbegibt. Bourdieu hätte die kleinen feinen Unterschiede kaum besser beschreiben können, die sich zwischen Rose und dem gut betuchten neuen Lover zeigen – nur im Alkoholkonsum sind sie sich sehr ähnlich. Der Sex hingegen läuft unbefriedigend, aber das für sie neue schicke Leben mit viel Komfort und Luxus bewegen Rose schließlich sogar zur Aufgabe ihres Jobs und ihrer eigenen Wohnung.

Mehr soll hier nicht erzählt werden – die Geschichte selbst ist ja auch eher kurz. Was uns überzeugt, ist die präzise Sprache und die Themen, die Mathieu anspricht, denn darin geht es immer auch um Geschlechter- und Klassenverhältnisse.

Das Cover ist – wie auch bei „Wie später ihre Kinder“ – sehr gelungen und den Übersetzenden Lena Müller und André Hansen gebührt großes Lob für die deutsche Sprachfassung.

Wir hätten das Büchlein lieber als Taschenbuch zu einem günstigen Preis gehabt anstatt für stolze 18,00 € für 96 Seiten – aber: gönnt Euch!!

Nicolas Mathieu:Rose Royal“ Juni 2020, Hanser, 96 Seiten gebunden, 18 Euro

Links-Lesen.de-Kollektiv im Oktober 2020