Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock

Der literarische Markt für DDR-Geschichte boomte in letzter Zeit. U.a. Anne Rabe, Dirk Oschmann, Katja Hoyer, Christina Morina und jetzt auch Ilko-Sascha Kowalczuk mit „Freiheitsschock“ verfassten sehr unterschiedliche Bestseller darüber, wie sie die DDR und vor allem ihre Bürger*innen sahen und sehen. Auch weniger prominente Autor*innen surften auf der Welle und gaben ihre realen oder vermeintlichen Expertisen zum Besten.

Buchcover

Die Bandbreite der Auffassungen über das Leben in der DDR ist nachvollziehbar erheblich. Für die einen steht der angeblich kuschelige und solidarische Alltag unter Nachbar*innen und Kolleg*innen im Mittelpunkt, für die anderen das autoritäre Regime und die ebenso autoritäre Verfasstheit vieler Menschen – vermutlich je nach eigener Erfahrung und Standpunkt, bzw. derer der Eltern, Bekannten etc.

Kowalczuks DDR-Analyse ist neben der von Anne Rabe sicherlich und mit Abstand die kritischste und kantigste in den aktuellen Büchern. Er ist – anders als andere Autor*innen – keinesfalls mit dem Motiv angetreten, in einem imaginären ostdeutschen Sympathiewettbewerb einen der vorderen Plätze zu belegen oder sich viele Freund*innen unter seinen ehemaligen Landsleuten zu machen. Er ist unbequem und scheint den Platz zwischen den Stühlen als adäquat zu empfinden. Und er ist erkennbar wütend und zornig – auf historisch nicht haltbare Thesen, auf Vereinfachungen und vor allem auf DDR-Schönfärber*innen. Kowalczuk sieht sich selbst am ehesten als Kiezbewohner, evtl. noch als Berliner, damit hat es sich auch schon. Andere Bezeichnungen wie „ostdeutsch“ etc. lehnt er für sich ab, was ihn erst einmal sympathisch macht. Auch, wie er sich mit authentischer Wut über das selbstgewählte Opferdasein vieler ehemaliger DDR-Bewohner*innen aufregt. Den ewigen Opferstatus empfindet er als perfekte Schuldabwehr, genau wie die selbstorganisierte Verantwortungslosigkeit, da ja schließlich alles von außen über eine/n gekommen ist und mensch ja für überhaupt nichts kann. Der böse Westen ist an allem schuld und für alles verantwortlich – so war auch bereits die offizielle Propaganda in der DDR. Diese äußerst bequeme Sichtweise vieler Menschen in Ostdeutschland – die durch Oschmann in seinem Buch weiteres Futter bekommt – provoziert den Autor Kowalczuk zusehens und er hält dagegen.

Kowalczuk beschreibt zurecht, dass die große Mehrheit der DDR-Gesellschaft zum einen am Sturz der SED im Herbst 1989 völlig unbeteiligt war und zum anderen so schnell wie möglich mit der BRD vereinigt werden wollte. Von einer unfreundlichen Übernahme – noch dazu gegen den Willen der Bevölkerung – könne demnach keine Rede sein. Der Autor zeichnet präzise und mit empirischen Zahlen unterlegt viele Widersprüche auf, wie z.B. dass die übergroße Mehrheit in Ostdeutschland zwar die eigene materielle Situation aktuell als sehr positiv begreift, aber gleichzeitig die volkswirtschaftliche Gesamtlage als negativ bezeichnet.

Stark ist das Buch immer dann, wenn der Autor die Mythen der DDR entlarvt und seinen Landsleuten den Spiegel vorhält.

Antifaschistischer Staat, sozialistische Kollektive und Bürger*innen und ähnliche offizielle Phrasen konterkariert er mit persönlichen Erfahrungen bspw. hinsichtlich seiner gehandicapten Cousins. Viel zu oft musste er sich mit ihnen zusammen bei Familienausflügen anhören, dass man wohl „vergessen hätte, sie zu vergasen“. Schwach ist das Buch dann, wenn z.B. unempirisch erwähnt wird, dass es für den Autor solche Erfahrungen im Westen überhaupt nicht gegeben hat und damit impliziert wird, dass es solche faschistoiden Äußerungen im Westen per se nicht geben würde und nie gegeben hätte. Mängel im System des Westens sind zwar nicht Thema des Buches, aber der Autor scheint keine zu kennen. Kapitalismus? Patriarchat? Fehlanzeige – Rassismus und Faschismus scheinen nur strukturelle Folgen des autoritären ostdeutschen Staates zu sein.

Und überhaupt: Kowalczuk holt groß aus und setzt den große Imperativ, wonach Freiheit alles und ohne Freiheit alles nichts ist. Zumindest ihm als Historiker und ehemaligen Linken müsste klar sein, dass „Freiheit“ ein relativer und vor allem interpretationsfähiger Begriff ist. Die Freiheit des Kapitalisten ist und bleibt eine andere, als die des Proleten und noch eine ganz andere, als die des prekär Lebenden im globalen Süden. So sehr allgemeine Menschenrechte unabdingbar sind, macht mich mein Wahlrecht weder satt noch frei, wenn ich nichts zu essen habe.

Der Freiheitsbegriff des Autors wird nirgendwo präzise definiert. Zwar werden historische Klassiker wie Locke, Rousseau, de Toqueville u.a. angeführt, aber ein kritischerer Blick auf einen auch oft ideologisch missbrauchten Begriff wie Freiheit wäre durchaus angebracht. Kowalczuks Liste von aufgezählten Intellektuellen ist zum einen in Teilen inhaltlich zweifelhaft (Joachim Gauck, ein Intellektueller?), zum anderen beredt, wenn dort Neoliberale wie Karl Popper oder nach rechts marschierte ehemaliger Bürgerrechtler positive Erwähnung finden, deren intellektuelle Beiträge ebenfalls überschaubar ausfallen.

In die gleiche Kerbe muss die Kritik schlagen, wenn der durch nichts zu rechtfertigende russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wiederholt als „Vernichtungskrieg“ bezeichnet wird. Bei allen Kriegsverbrechen, die durch die russische Armee dort begangen werden, ist sich die seriöse Analyse dahingehend einig, dass es eben kein Vernichtungskrieg ist. Diese Vokabel ist bisher dem deutschen Krieg in Osteuropa ab 1941 vorbehalten.

Auch wenn Kowalczuk klare Kante gegen Rechtsaußen und Faschismus zeigt und dabei auch authentisch und überzeugend ist, dürfte es an einigen Passagen im Buch zu viel und vor allem überflüssigen Beifall von der falschen Seite geben. Dies allein sollte allerdings kein Grund sein, Wahrheiten nicht zu benennen. Hier werden allerdings Wertungen vorgenommen, die in Teilen eine Schlagseite bekommen, die nicht nötig gewesen wäre.

Es ist ein zwar ambivalentes, aber durchaus lesenswertes Buch und ein wertvoller Beitrag hinsichtlich der Analyse, warum nach wie vor in Ostdeutschland wesentlich mehr Menschen AfD wählen als im Westen. Kowalczuk schwimmt analytisch sympathisch gegen den bundesrepublikanischen Mainstream und hat meistens die Empirie auf seiner Seite und in Sachen klare-Kante-gegen-die-AfD seine Subjektivität sowieso.


Ilko-Sascha Kowalczuk: „Freiheitsschock“ // August 2024 // C.H. Beck // 240 S. Hardcover // 22,- €

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