Karin Harrasser: Surazo. Monika und Hans Ertl: Eine deutsche Geschichte in Bolivien

Karin Harrasser – Kultur- und Medienwissenschaftlerin mit einem Lehrstuhl in Linz – beschreibt in „Surazo“ mit klarem linkem Bewusstsein und empathischem Blick zwei (nicht untypische) deutsche Leben im 20. Jahrhundert: Vater und Tochter im Antagonismus zwischen Hitler-Faschismus und weltweiten Befreiungsbewegungen ab den 1960er Jahren.

 

Hans Ertl war Bergsteiger, Abenteurer, Filmemacher und ein williger Propagandist des NS. Er war der Kameramann von Leni Riefenstahl u.a. beim legendären Olympia-Film und begleitete den deutschen Vernichtungskrieg in Osteuropa – hier speziell im Kaukasus – und in Nordafrika. Er besorgte die Bilder von voranstürmenden deutschen Soldaten, die über die Wochenschau in den Kinos die Heimatfront begeistern und beim späteren Rückzug festigen sollte. Nach der Befreiung vom Faschismus – die Ertl sicherlich nicht als eine solche begriff – blieb er zunächst in der BRD. Die Nichtnominierung für einen Filmpreis kränkte ihn Anfang der 1950er Jahre anscheinend so, dass er mit seiner Familie nach Bolivien auswanderte. Hier wuchs Monika Ertl – eine der drei Töchter, geboren 1937 – auf und schien zunächst ganz im Sinne des Vaters aufzuwachsen. Dieser hatte sich natürlich lieber mindestens einen Sohn gewünscht, aber speziell Monika erfüllte zunächst viele seiner Hoffnungen auf diesem Gebiet. Interessiert an den Abenteuern des Vaters und seinen Filmexpeditionen in abgelegenen Gebieten Boliviens wurde sie sowohl vor wie auch hinter der Kamera Teil der weiteren Filme von Hans Ertl.

Diese scheinbar unpolitischen Tätigkeiten hatten eine klare Kehrseite. Ertl war natürlich nicht der einzige Deutsche, der nach Bolivien emigriert war. Außer ihm gab es auch nicht wenige, die vor juristischer Verfolgung auf der Flucht waren und mit Hilfe der sog. „Rattenlinie“ nach der Niederlage des NS aus Europa nach Lateinamerika entkommen konnten.

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Der bekannteste war sicherlich Klaus Barbie, der „Schlächter von Lyon“ – SS-Offizier und Gestapo-Chef von Lyon, bekannt für die Verfolgung, Folterung und Ermordung von Resistance-Angehörigen. Die Wege von Monika Ertl und Barbie kreuzten sich mehrfach, sie ging mit der Barbie-Tochter Ute gemeinsam zur Schule und der brutale Folterer wurde von ihr „Onkel Klaus“ genannt.

Monika heiratet später jemanden aus der deutschen Kolonie in La Paz und führt in dieser Zeit ein weißes bourgeoises Leben in einem Land mit brutalen sozialen Gegensätzen. Sklavereiähnliche Zustände auf den Plantagen, rechtlose Arbeiter in den Minen der transnationalen Konzerne und Schuldknechtschaften für Indigene waren die Regel und nicht die Ausnahme.

Infolge der weltweiten Kämpfe gegen solche und andere Formen von Herrschaft und Ausbeutung, befeuert von der kubanischen Revolution, dem erfolgreichen antikolonialen Befreiungskampf in Algerien und dem heroischen Kampf der Vietnames*innen gegen den US-Imperialismus gründet sich in Bolivien die linke Guerilla ELN mit dem charismatischen Che Guevara, was ihr zu weltweiter Popularität verhilft. Der Versuch, einen weiteren revolutionären Fokus – diesmal auf dem amerikanischem Festland – zu etablieren scheitert tragisch. Che wird getötet, die ELN weitestgehend aufgerieben, ähnliches passiert zwei Jahre später mit der von Che’s Mitkämpfer restrukturierten Gruppe um Inti Peredo.

Monika Ertl findet in dieser Zeit den Weg zur ELN. Karin Harrasser versucht vergeblich zu rekonstruieren, welches Monikas genaue Motive gewesen sind. Der Weg von der Bourgeoise zur ELN kann nicht klar nachgezeichnet werden. Nach den Angaben von Hans Ertl versuchte sie ihn dazu zu gewinnen, seine im Dschungel gelegene Farm als Unterschlupf für Guerilleros zur Verfügung zu stellen. Der Versuch musste scheitern.

Der von ihr angenommene Kampfname war Imilla, ein indigenes Wort für „Mädchen“. Der Bezug auf indigene Begriffe war sicherlich kein Zufall. Die ELN sah auch in der indigenen Bevölkerung potentielle revolutionäre Subjekte und bezog sich – anders als marxistische Parteien in dieser Zeit – nicht nur auf Arbeiter*innen.

Der relativen Prominenz von Monika Ertl und die vielfältigen Interesse von europäischen Medienschaffenden an ihr liegt eine Aktion in Hamburg von 1971 zugrunde. Roberto Quintanilla war als hoher Anti-Guerilla-Offizier für die Ermordung von Che Guevara und Inti Peredo persönlich verantwortlich. Mit einem Job am bolivianischen Konsulat in Hamburg sollte er im wahrsten Sinne des Wortes aus der Schusslinie genommen werden. Im April 1971 wurde er von einer Frau – wahrscheinlich Monika Ertl – in den Räumen des Konsulats erschossen. Die ELN bekannte sich zu der Tat.

Viele Einzelheiten dazu in dem etwas oldschoolig und teilweise boulevardesk geschriebenen, aber gut recherchierten Buch: Jürgen Schreiber: Sie starb wie Che Guevara – nur noch antiquarisch erhältlich.

Der weltweite Aufbruch spätestens ab 1968 führte auch zu einer globalen Zusammenarbeit von links. So wie mutmaßlich Monika Ertl von Bolivien nach Europa reiste, um mit einer vom italienischen Verleger Giangiacomo Feltrinelli zur Verfügung gestellten Pistole einen bolivianischen Folteroffizier zu erschießen, waren auch Europäer*innen in Lateinamerika aktiv. Regis Debray – später außenpolitischer Berater von Francois Mitterand – war mit Che in Bolivien unterwegs, saß drei Jahre dort im Knast. 1972 versuchte er zusammen mit dem Ehepaar Klarsfeld und dem Bolivianer Gustavo Sanchez Klaus Barbie nach Frankreich zu entführen, damit dieser dort vor Gericht gestellt werden konnte. Laut Debray hat Monika Ertl evtl. sogar die Idee zur Entführung gehabt, mindestens aber entscheidende Informationen für den Plan geliefert. Das Ehepaar Klarsfeld bestreitet dies und reklamiert alle relevanten Anteile für sich. Da Debray und Monika sich gut kannten, liegt zumindest die Weitergabe von Informationen sehr nahe, wusste sie doch sehr viel über den Alt-Nazi Barbie. Und sie hatte allen auch aktuellen Grund ihn abgrundtief zu hassen: waren doch Klaus Barbies Aufstandsbekämpfungsexpertisen aus dem besetzten Lyon der 1940er Jahre in Bolivien in den 1960ern Jahren wieder sehr gefragt. Er beriet das Militär und die Polizei in Fahndung, Foltermethoden und Verhörtechniken. Der Entführungsplan scheiterte leider.

Dafür schloss sich der Kreis zwischen Monika und Klaus Barbie 1973 ein weiteres und zum letzten Mal. Unglücklicherweise erkennt Barbie Monika in La Paz auf der Straße. Sie und ein argentinischer Companero werden vom Militär erschossen. Das Regime lässt ihre Leiche verschwinden.

Regis Debray hat Monika ein literarisches Denkmal gesetzt. „La neige brule“ (deutsch: „Ein Leben für ein Leben“) beschreibt die Zeit von Monika bei der ELN inklusive des Anschlags in Hamburg romanhaft. Leider nur noch antiquarisch erhältlich.

Karin Harrasser beschreibt mit großer Empathie aber ohne Glorifizierung den weltweiten Aufbruch in den 1960ern inklusive der radikalsten Form, des bewaffneten Kampfes, vor dem Hintergrund einer schwierigen Tochter-Vater-Beziehung. Diese erfährt eine harte Abgrenzung, die entschiedener nicht hätte ausfallen können. Dieser Umstand wird aber richtigerweise nicht monokausal für den Weg von Monika von einer Angehörigen der weißen Bourgeoise zu einer linken Guerilla-Kämpferin analysiert und dargestellt.

Die Autorin gibt viele Hinweise auf andere dokumentarische Quellen zu dieser intensiven und spannenden Zeit. Sie reflektiert dabei auch ihre eigene Geschichte und die ihrer Generation (Jahrgang 1974) und nimmt Bezug auf halbwegs aktuelle Auseinandersetzungen wie bspw. die Rolle der Wehrmacht und die Kontroversen um die sog. Wehrmachtsausstellung. Gut auch, dass das Literaturverzeichnis nach einzelnen Kapiteln geordnet ist, so weiß mensch sofort, was für die Autorin an den jeweiligen Stellen relevant war

Geschichte ist nie vorbei – sie wird gemacht. Ein lesenswertes Buch.

Apropos: 1983 – 10 Jahre nach Monikas Ermordung – schließt sich der Kreis zwischen Barbie und internationalem Antifaschismus endgültig. Gustavo Sanchez wird am 4. Februar 1983 morgens zum bolivianischen Innenminister ernannt. Am selben Abend wird Klaus Barbie nach Französisch-Guayana abgeschoben, von wo aus er nach Frankreich ausgeliefert wird. Sanchez informiert Debray in dessen Sitz im französischen Außenministerium darüber telefonisch. Barbie wird in Frankreich wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit verurteilt und stirbt 1991 in der Haft.

Karin Harrasser:Surazo. Monika und Hans Ertl: Eine deutsche Geschichte in Bolivien Frühjahr 2022, Matthes & Seitz, 270 Seiten gebunden, 26 Euro

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