Berlin, 24. Juni 1922

Warum auch immer möglichst runde Jubiläen publizistisch wertvoll sein sollen, wir wissen es nicht. Wir glauben aber gute Bücher zu erkennen. Hier hat Thomas Hüetlin bei KiWi eines veröffentlicht: 

Thomas Hüetlin: Berlin, 24. Juni 1922 – Der Rathenaumord und der Beginn des rechten Terrors in Deutschland

Buchcover

Rechter Terror

Berlin, 24. Juni 1922“ ist eine genaue, gute und mitreißende, im Stil einer Reportage geschriebene Darstellung der Ermordung des damaligen deutschen Außenministers durch organisierte Rechtsextremisten – und wie es dazu kommen konnte. Vor allem schwingt immer der Vergleich mit heute mit und wird am Schluss auch ausdrücklich dargestellt.

Der Untertitel ist irreführend und findet sich im Buch auch nicht wieder – der Mord an Walter Rathenau war mitnichten der Beginn des rechten Terrors. Im Gegenteil, der Autor beschreibt die Hintergründe der Täter und ihrer Organisation – eine einzige terroristische Vereinigung.

Freikorps

Mit der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution 1918 bildeten sich im ganzen Land sogenannte Freikorps – Landsknechte nach Vorbild der Bauernkriege wäre die bessere Bezeichnung. Irreguläre militärische Einheiten, die marodierend durchs Land zogen und auch auf Bitten der SPD revolutionäre Arbeiter*innen – oder was auch immer dafür gehalten wurde – dahinzumetzen. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren zwei der prominentesten Opfer dieser rechten Mörderbanden. Im Märzaufstand 1919 und bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik im Mai 1919 fanden viele viele tausend Menschen den Tod. Die wenigsten im Kampf, sondern später ermordet durch militärisch ausgebildete, gut bewaffnete Terroristen. Die „Brigade Ehrhardt“, welche Hüetlin exemplarisch beschreibt, gab sich nicht einmal den Hauch von Klassenneutralität. In einem ihrer Lieder hieß es u.a. ganz offen:

die Brigade Ehrhardt schlägt alles kurz und klein – wehe dir, wehe dir du Arbeiterschwein

Die Mitglieder dieser Mörderbanden waren durch die deutsche Niederlage radikalisierte Soldaten. Ausgebildet und zugerichtet in den preußischen Kadettenanstalten hatten sie außer Kriegsführung und Sterben für den Kaiser nichts gelernt. Ihr freier Wille wurde gebrochen durch die Gehirnwäsche der Ausbildung, auf nichts anderes gedrillt als Befehl und Gehorsam. Ihre Köpfe und Körper gehörten vollständig dem Kaiser und dem preußischen Staat. Dankenswerterweise widmet Hüetlin auch Klaus Theweleits „Männerphantasien“ mehrere Seiten. Theweleit hatte in diesem grandiosen Werk die Gewaltbereitschaft des faschistischen Mannes analysiert.

Dolchstoßlegende

Nach dem Krieg war plötzlich alles anders. Die deutsche Niederlage konnte natürlich nicht anerkannt werden, also mussten Kräfte benannt werden, die „den Dolchstoß von hinten führten“, also Demokraten, Linke und vor allem Juden. Nicht nur die revolutionäre Erhebung 1918/19, sondern auch die Weimarer Republik wurde komplett abgelehnt. Alles Bürgerliche, alles Liberale, genau wie das jetzt eingeführte Wahlrecht für Frauen war diesen Wegbereitern des Faschismus so unerträglich, dass es mit Waffengewalt bekämpft werden musste. Die Moderne, die Großstadt – alles unübersichtlich, alles musste weg. Zurück zum Ursprünglichen, zum Überschaubaren, zu einfachen Lösungen, zu Schwarz oder Weiß – bloß keine Ambivalenzen.

Unterstützung fand diese Position genug, in der regulären Armee, bei der Polizei, dem Adel und Teilen der Großindustrie und der Politik. Die Zellen der „Organisation Consul“ bestanden mindestens in Teilen aus gebildeten Mitgliedern des Bürgertums.

Auch bereits damals zählten weder Fakten noch Wahrheiten in dieser brutalen Auseinandersetzung. Fake news sind keine Erfindung des 21. Jahrhunderts.

Rathenau selbst war beileibe kein Linker, er war Kriegsbefürworter und seine AEG hatte gut verdient an Rüstungsgütern. Aber er befürwortete den Ausgleich mit Frankreich und England und als Jude wurde er zur perfekten Zielscheibe des aufkommenden Faschismus. Rechte Kreise gingen mit erfundenen Aussprüchen Rathenaus hausieren und gaben ihn zum Abschuss frei.

Attentat

Mitglieder der „Organisation Consul“, in welche die „Brigade Ehrhardt“ aufgegangen war, planten seinen Tod und nichts und niemand hinderte sie daran. Für die Tat aus einem offenen Wagen heraus benötigten die Attentäter nach ihrem Plan ein Cabrio. Ein junger Fabrikant aus Sachsen stellte gerne seinen Pkw für die Sache zur Verfügung. Immerhin – nach der Ermordung Rathenaus gab es in Berlin einen Generalstreik und bis zu einer Million Menschen gingen gegen den rechtsextremistischen Anschlag auf die Straße.

Heute

In einer Art Nachwort vergleicht der Autor dann 1922 mit der Jetztzeit und äußert dazu kluge, abgewogene und genaue Gedanken, ohne alarmistisch oder verharmlosend zu werden. Er schildert überzeugend die größere Ausbreitung von faschistischem Gedankengut in der BRD, weil sich Teile des Bürgertums seit ca. 10 Jahren wieder mit den Nazis gemeinmachen. Rechte Attentäter fühlen sich dadurch bestärkt und schreiten zur Tat. Aber klar ist auch, dass wir die Situation heute weder mit 1922 und schon gar nicht mit 1933 gleichsetzen können.

Ein äußerst lesenswertes Buch.

Thomas Hüetlin: „Berlin, 24. Juni 1922 – Der Rathenaumord und der Beginn des rechten Terrors in Deutschland.“, Februar 2022, Kiwi-Verlag, 304 Seiten gebunden, 24 Euro

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