Das Verschwinden des Josef Mengele

In Frankreich hat Olivier Guez mit „Das Verschwinden des Josef Mengele“ einen Bestseller gelandet. Kann das gehen, ein aufklärerisches, literarisch lesenswertes Buch über Josef Mengele zu schreiben?

Und möchte man das lesen, die Geschichte, wie sich ein Nazi-Verbrecher und Rassenwahn-Mörder der Strafverfolgung erfolgreich entziehen kann? Um die beiden Fragen gleich zu Beginn zu beantworten: Olivier Guez gelingt es, einen ganz außergewöhnlichen dokumentarischen Roman über die Flucht Mengeles zu schreiben – und ja: dieses Buch ist ausgesprochen lesenswert.

Die Fluchtwege von Nazigrößen über sogenannte ‚Rattenlinien‘ sind seit einiger Zeit wissenschaftlich gut erforscht, unter anderem durch das Standardwerk „Odessa: Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher“ des argentinischen Journalisten und Historikers Uki Goni bei Assoziation A – schönerweise gibt es eine Neuauflage im Frühjahr 2020!

Durch die konkrete fast romanhafte Form, in der der journalistisch tätige Franzose Olivier Guez in „Das Verschwinden des Joseph Mengele“ aufgrund ausführlicher Recherchen die Flucht und das Entkommen vor Strafverfolgung Stück für Stück darstellt, gelingt eine weitere Erkenntnisebene und mehr Nachvollziehbarkeit für diesen unsäglichen Vorgang des ‘Verschwindens‘. Und im besten Fall liefert diese Buchveröffentlichung einen erneuten Anlass, die Netzwerke, Akteur*innen und Institutionen aus dem Schatten, dem Vertuschen und dem Vergessen zu holen, die Kriegs- und NS-Verbrechern in hohem Maße Hilfe und Unterstützung zukommen ließen, als da wären Kirchenkreise, Polizei- und Justizapparate, Soldaten- und Wirtschaftsverbände etc..

Jahrzehntelang rankten sich viele Mythen um Leben und Aufenthaltsort des nie gefassten NS-Verbrechers Mengele nach 1945 – wobei das Interesse an seiner Person bzw. seinem Leben erst Anfang der 60er Jahre aufflammte; untergetauchte Nazi-Täter waren gerade in Westdeutschland wahrlich kein großes Thema in den Fünfziger Jahren.
Der zunächst kaum vorhandene Verfolgungsdruck, die später mehr und mehr werdenden Nachforschungen um seinen Aufenthalt bilden verschiedene Phasen von Mengeles Flucht und damit auch das Gerüst, auf dem Olivier Guez sein Buch aufbaut: der erste Teil „Der Pascha“ beschreibt den noch recht jungen Mengele und seine ersten Jahre in Argentinien, wo er ein recht unbeschwertes Leben ohne Verfolgungsdruck leben konnte. Der zweite Abschnitt ist überschrieben mit „Die Ratte„; hier wird der gehetzte und verfolgte Mengele geschildert. Und schließlich geht es im dritten Teil „Das Phantom“ um das Untertauchen, Abschütteln und schließlich den Tod durch Herzinfarkt im Jahr 1979 mit anschließender Legendenbildung.

Bevor der frühere KZ-„Arzt“ nach Argentinien übersetzte, hatte er sich – wie andere seiner ‚Kameraden‘ auch – unter falschem Namen auf einem entlegenen Bauernhof versteckt. Seine Familie aus dem bayerischen Günzburg ließ verlauten, er wäre im Osten vermisst – dabei hatte sie ständig Kontakt zu ihm gehalten, z.B. über den Prokuristen ihres angesehenen Landmaschinenbetriebs „Mengele Agrartechnik“, in den 1950er Jahren mit 2.000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber der Region. Tragik der Geschichte: für kurze Zeit war der aus Auschwitz über Groß-Rosen und dann in Bayern untergetauchte Mengele 1945 sogar von US-amerikanischen Truppen interniert, aber nach zwei Wochen entlassen worden: er hatte einen falschen Namen angegeben. Ein weit wichtigerer Schutz war vermutlich gewesen, dass er sich als einer der wenigen SS-Angehörigen – vermutlich aus Eitelkeit – keine Blutgruppe hatte eintätowieren lassen.

Der erste Teil des Buches beginnt mit dem Einlaufen des Übersee-Dampfers North King im Sommer 1949 in Buenos Aires – an Bord knapp 3000 ExilantInnen, EmigrantInnen, Flüchtlinge und Flüchtige aus Europa, darunter ein Mann mit einem Ausweis auf den Namen Helmut Gregor, der sich in Genua eingeschifft hatte.

Olivier Guez gelingt ab der ersten Seite eine Schreibweise und ein Tonfall, durch die es möglich wird, an konkreten Fluchtsituationen Mengeles sowie an alltäglichen Begebenheiten teil zu haben, ohne dass eine emotionale Nähe zu dieser an sich unerträglichen Hauptfigur aufkommt. Die Schilderung eines unangenehmen, eitlen, rassistischen, arroganten, unbeholfenen, ungeduldigen, herrschsüchtigen und ängstlichen Mannes, dessen Lebenswelt und Lebenswerk für ihn unverständlicherweise nicht in geplanter Weise fortgeführt werden konnte, ist ein echtes Kunststück, zumal sie nicht reißerisch daher kommt.
So beschreibt Guez, wie Mengele – jetzt Exilant in einer ihm fremden Welt – in den ersten Tagen nach seiner Ankunft in der argentinischen Hauptstadt, wo ihn seine Kontaktperson zunächst versetzt hat, durch die Straßen streift:

„…wie ein unbedeutender Floh, er, der unlängst noch ein ganzes Reich tyrannisiert hatte. Gregor denkt an eine andere Planstadt – Baracken, Gaskammern, Krematorien, Schienen –, wo er seine besten Jahre als Ingenieur der Rasse verbracht hatte, eine verbotene Stadt in dem beißenden Geruch von verbranntem Haar und Fleisch, ringsherum Wachtürme und Stacheldraht. Mit dem Motorrad, Fahrrad oder Auto war er zwischen den gesichtslosen Schatten umhergefahren, unermüdlicher Kannibalen-Dandy, Stiefel, Handschuhe und Uniform blitzblank, die Mütze etwas schief aufgesetzt“

Als Leser*in wird man im Laufe der fortschreitenden Handlung Schritt für Schritt dessen gewahr, wie gut die Unterstützungsnetzwerke funktioniert haben, wie viele ehemalige NS-Funktionäre sich in Argentinien oder anderen Staaten Lateinamerikas wieder trafen und welche Unterstützung sie z.B. durch die Ideologie und Politik des Peronismus erfuhren. Die jeweiligen Interessenlagen der politischen Führungsriegen bekommt Guez gut zu fassen, ohne dass er sprachlich dabei ins Sachbuch-Genre wechselt.

Es ist sein großer Verdienst, wie intensiv er vor Ort recherchiert hat, bis hin zu Alltäglichkeiten wie damalige kulturelle Veranstaltungen und Illustrierte, die das Alltagsleben der wohlhabenden Exilgemeinde prägten. Durch diese Recherchen gelingt es ihm, z.B. das Buenos Aires der 50er Jahren so zu schildern, dass es konkret vorstellbar wird, in welchen Kreisen und welcher Atmosphäre sich der Untergetauchte und andere ehemalige Nazi-Größen bewegt haben.
Während Mengele anfangs noch fürchtet, von z.B. jüdischen Überlebenden erkannt zu werden, beginnt er mit der Zeit ein neues, nicht mehr besonders unruhiges Leben, mit falschem Pass, aber besten Verbindungen (obwohl diese aus seiner Sicht nicht immer schnell genug funktionieren…). Unter seinen Kontakten findet sich auch der Niederländer Wilhelm Sassen, Vater der US-amerikanischen Stadtsoziologin Saskia Sassen – die Bitte nach weiteren Informationen zu ihrem Vater schlug sie Guez zufolge aus (s. Artikel in der lateinamerikanischen Online-Ressource „Libertad digital„)

Mengele macht schließlich Geschäfte – über Umwege und Mittelsmänner verkauft er sogar Landmaschinen der familiären Firma. A propos Familie: die eigene Ehe wird zwar geschieden, 1958 heiratet Josef Mengele in Uruguay die Witwe seines Bruders, zum näheren Kennenlernen fand ein gemeinsamer Skiurlaub in Europa statt – natürlich steht sein Name in all diesen Jahren auf der Liste mit gesuchten Kriegsverbrechern. In der hier erzählten Anekdote wird beispielhaft deutlich, wie Guez den immer noch fanatischen Nationalsozialisten Mengele darstellt:

„Gregor [zu Besuch in Bayern] schimpft am Steuer, als er die Nachrichten hört. Die Bundeswehr wird an Nato-Manövern teilnehmen, ein Priester beglückwünscht sich zur Gründung eines deutsch-jüdischen Freundeskreises in Frankfurt, die israelische Handelsvertretung in Köln heißt einen neuen Direktor willkommen. Und dieser verfluchte Jazz: Gregor sucht nach einem Sender, der klassische Musik ausstrahlt. Er beugt sich über das Autoradio, fummelt ein, zwei Sekunden an den Knöpfen herum und rammt den Wagen, der vor ihm gebremst hat.“

Die Episode dieses kleinen Auffahrunfalls inklusive Polizei am Unfallort nutzt Guez, um sowohl die plötzliche Panik des Untergetauchten, aber eben auch die Rolle der hoch angesehenen Familie zum Vorschein zu bringen, die den kleinen unbedeutenden Vorfall schnell und diskret regelt, so dass nicht weiter wegen der argentinischen Papiere des seltsamen bayerisch sprechenden Autofahrers ermittelt wird.

Im Buch werden eine ganze Reihe von Möglichkeiten und Situationen geschildert, in denen es möglich gewesen wäre, Mengele zu finden, seinen Aufenthalt öffentlich zu machen, ihn zu verhaften. Neben Protektion durch die Familie und helfende Netzwerke sind auch Zufälle, politische und zeitgeschichtliche Konjunkturen oder Einzelentscheidungen beteiligter Personen schuld daran, dass Mengele nie gefasst wird. Was ansonsten Material für einen Krimi um Flucht und Versteck hergäbe, bedeutet hier eine reale niederschmetternde historische Niederlage – und Guez begeht glücklicherweise nicht den Fehler, einen Kriminalroman daraus zu machen. Wir lesen eher die Entwicklungsgeschichte einer durch und durch abstoßenden Person, eines Nazis und Rassisten, auf den sich die Flucht und der zunehmende Druck mehr und mehr auswirkt.

Beginnend im zweiten und deutlicher herausgearbeitet im dritten Teil wird ein anderer Mengele geschildert, als der heroische Typus aus den erste Jahren: er wird nervöser, unruhiger, die Gehetztheit schreibt sich mehr und mehr in seine Körperlichkeit ein, die Lebensumstände werden schlichter, ärmlicher, einsamer. Die Entführung Adolf Eichmanns durch den Mossad ist ein Einschnitt. Guez beschreibt die Suche nach Mengele durch den israelischen Geheimdienst, durch den Staatsanwalt Fritz Bauer oder durch Journalist*innen. Die Lage spitzt sich immer mehr zu. Mengele leidet unter Panikattacken, körperlichem Verfall und unter dem Neid auf diejenigen seiner ehemaligen Arzt-Kollegen, SS-Täter oder sonstigen NS-Größen, die trotz ihrer Vergangenheit in Deutschland inzwischen Karriere machen konnten:

„Zwanzig Jahre später, grummelt Mengele, haben die Direktoren dieser Unternehmen ihr Mäntelchen nach dem Wind gehängt. In ihrer Frankfurter oder Münchner Villa rauchen sie im trauten Familienkreis Zigarre und nippen an erlesenen Weinen, während er durch Kuhfladen stapft! Verräter!“

Mengeles menschenverachtender Blick auf die Welt aber auch seine Verbrechen werden immer wieder zur Sprache gebracht in Form von ihn umtreibenden Erinnerungen, Flash-Backs, Träumen oder Selbstvergewisserungen. Typische Begriffe und Formulierungen der ‚Nazi-Sprache‘, die Victor Klemperer so unbestechlich gut in „LTI“ beschrieben hat, läßt Guez an der einen oder anderen Stelle in Mengeles Grübeleien auftauchen, er setzt sie dann aber in Anführungszeichen – eine passende Methode, die Gedankenwelt des vielfachen Mörders abzubilden, ohne sie begrifflich ungekennzeichnet zu übernehmen.

Dem Thema mehr als angemessen ist, dass im Buch nicht nur die jeweils aktuelle Situation und Sichtweise des Täters Mengeles beschrieben werden. Auf eine äußerst gelungene Art werden vom Autor immer wieder Erinnerungen und Schilderungen von Mengeles entsetzlichen Taten aus Opferperspektive eingeflochten – oft schwer erträglich in ihrer Brutalität. Ich musste das Buch einige Male zwischendurch weglegen. Aber ein solches Buch kann nur mit diesen Teilen funktionieren – die Gesamtkomposition macht die wirklich hohe Qualität dieses Werkes aus.

LinksLesen-Kollektiv