27. Januar 1945 – Jahrestag der Befreiung
Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die Insassen des Lagerkomplexes KZ Auschwitz. Dieser Tag ist inzwischen Internationaler Holocaust-Gedenktag und auch für uns Anlass zum antifaschistischen Gedenken und Erinnern. Dazu sind Erinnerungen und Berichte Überlebender auch heute noch wichtige, bewegende und erschütternde Dokumente. Dieses Jahr wollen wir den Fokus besonders auf widerständiges Handeln von NS-Verfolgten während und nach der Befreiung legen. Hierzu haben wir ganz aktuelle Neuerscheinungen ausgewählt. Wir wünschen erkenntnisreiche Lektüre und sagen: Never forget!
Zunächst stellen wir vor von Dina Porat: „Die Rache ist Mein allein. Vergeltung für die Schoa: Abba Kovners Organisation Nakam.“ (Brill Schöningh, 2021). Einige haben sicherlich den Film „Plan A“ von Doron & Yoav Paz gesehen, für den die Geschichte der jüdischen Organisation Nakam („Rache“) die Vorlage bot. Ein Ziel dieser Gruppe von Shoa-überlebenden Jüdinnen und Juden war es, nach 1945 möglichst viele Deutsche umzubringen, durch Vergiftung der Trinkwasserversorgung in großen deutschen Städten (=Plan A) und durch die die Tötung von SS-Angehörigen, die in Kriegsgefangegenlagern der Alliierten einsaßen (= Plan B). Die Gedenkstätte Yad Vashem hatte in den letzten Jahren einige verbliebene Mitglieder dazu bewegen können, erstmals ihre Geschichte für das Archiv zu erzählen. In Israel erschien 2019 daraufhin eine Studie über die etwa 50 beteiligten Männer und Frauen, herausgegeben von der Gedenkstättenhistorikerin Prof. Dina Porat. Diese materialreiche Arbeit, die sich darüberhinaus empathisch und moralisch mit den Motiven und Beweggründen ausienandersetzt, ist nun auf deutsch erschienen.
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Bei Kiepenheuer & Witsch erschien 2021: „Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen. Die Rache der Juden, das Versagen der deutschen Justiz nach 1945 und das Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung“ geschrieben vom Rechtsphilosophen, Autor und Anwalt Achim Doerfer. Er selbst ist Nachfahre von Holocaust-Überlebenden und beschäftigt sich in diesem Buch mit der Wahrnehmung der „Opfer-Rolle“ von Juden und Jüdinnen während und nach der NS-Verfolgung (Stichwort: „Wie die Schafe zur Schlachtbank…“). In früheren Darstellungen und großen Teilen der deutschen Geschichtsschreibung kamen jüdische WiderstandskämpferInnen kaum oder gar nicht vor. In seinem Buch porträtiert und würdigt er verschiedene Gruppen und Aktiviäten jüdischen Widerstands und jüdischer Rache- und Vergeltungsmaßnahmen an Nazis. Hier thematisiert er auch auf der begrifflichen Ebene verschiedene Akte und Definitionen von Widerstand und Vergeltung. Gerade vor dem Hintergrund der Verharmlosung des Holocaus, der Nicht-Verfolgung von NS-Tätern, des Vertuschens und Deckelns von Verbrechen in beiden Deutschlands nach `45 spürt er jüdischen Menschen nach, die z.B. die juristische Verfolgung selbst in die Hand genommen hatten, so etwa die Jüdische Brigade innerhalb der britischen Armee, die in den italienischen Alpen geflohene NS-Verbrecher verfolgte, verhörte und liquidierte.
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Von Judy Batalion wurde nun ins deutsche übersetzt: „Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns. Die vergessene Geschichte jüdischer Freiheitskämpferinnen„, hrsg. bei Piper. Auch Batalion ist Enkelin einer polnisch-jüdischen Holocaustüberlebenden und kam über die Beschäftigung mit den Traumata ihrer Familie zur Beschäftigung mit jüdischer Widerstandsgeschichte. Das Buch ist eine enorme Fleißarbeit und Sammlung beinah vergessener Geschichten und Biografien von jungen Frauen und Mädchen, die in den Ghettos Osteuropas unglaublich mutige Politik machten gegen die grausame Besatzungs- und Vernichtungspolitik der Nazis. Im Lesesaal der British Library in London stieß die kanadische Forscherin auf eine vergilbte Blättersammlung: „Freuen in di Ghettos“ – eine Sammlung von Erinnerungen und Berichten jüdischer, vor allem polnischer Frauen, die gegen die Nazis gekämpft hatten, 200 eng beschriebene Seiten in jiddisch, erschienen 1946 in New York. Judy Batalion erzählt diese Geschichten jüdischer Freiheitskämpferinnen nun in ihrem dicken Buch ausführlich nach. Eine Buchbesprechung hier auf unserer Seite ist für die nächsten Wochen geplant.
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Ein ganz besonderes Highlight des letzen Jahres: „Dem Tod davongelaufen. Wie neun junge Frauen dem Konzentrationslager entkamen“ – eine nun bei Assoziation A ins deutsche übertragene Erinnerung der Französin Suzanne Maudet. Maudet war im April 1945 die Flucht aus einem Todesmarsch Richtung Dresden gelungen, zusammen mit acht anderen Gefangenen, die bereits mehrere Monate der Haftzeit zusammen durchstanden und durchlitten hatten. So unvorstellbar das erscheint: die Flucht ist allen geglückt, alle überleben und Maudet schreibt bereits kurz danach ihren Erinnerungsbericht. Er wird auch in Frankreich erst nach ihrem Tod veröffentlicht. Es ist ein von einer überraschend optimistischen Grundstimmung geprägter Text, ein Ausdruck unbedingten Lebenswillens, von Mut, Freude und Solidarität dieser früheren politischen Gefangenen – ohne die Grauen und Schrecken der letzten Haftmonate und der Zwangsarbeit auszublenden. Gleichzeitig ist ein authentisches Dokument entstanden über die Situation der allerletzten Kriegstage und der Stimmung derjenigen Deutschen, auf die sie treffen. Ein Must-read!
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Norman Ohler: „Harro & Libertas. Die Berliner Gruppe der Roten Kapelle“ (Kiepenheuer & Witsch) Die Widerstandsgruppe Rote Kapelle war ein nach außen „bürgerlicher“ Kreis in Berlin: Nationalrevolutionär*innen, Jüd*innen, Kommunist*innen, Arbeiter*innen, Künstler*innen trafen sich bei großen Partys, die das Liebespaar Harro Schulze-Boysen und Libertas Haas-Heye veranstalteten. Dort lernten sich verschiedenste kleine Widerstandszirkel kennen, es wurden Freundschaften geschlossen und über Aktionen gesprochen. Das „Bürgerliche“ war über Jahre der Schutz dieser Gruppe. Gleichzeitig praktizierten Libertas und Harro einen sehr offenen Liebes- und Lebensstil und weigerten sich, diesen der rigiden NS-Moral unterzuordnen. Erst durch unfassbare Fehler des sowjetischen Geheimdienstes und durch die grausamen Folterungen der Gestapo an den Funkern in Brüssel ist dieser Zirkel aufgeflogen. Gut ist der Schlussteil des Buches, wo nach der Verhaftungswelle von mehr als 120 Personen durch die Gestapo im Spätsommer 1942 ausführlich der individuelle und kollektive Umgang mit den Verhören, Erniedrigungen und Folterungen in Briefen aus den Todeszellen geschildert wird. Hervorgehoben wird auch die brutale Kälte der Nazirichter und die Karrieren, die die an den über 50 Todesurteilen beteiligten Richter und Gestapo-Kommissare nach dem Krieg fortsetzen konnten, z. B. in der Organisation Gehlen.
Euer Links-Lesen.de-Kollektiv im Januar 2022