Die Forschungsarbeit Der Fall Colonia Dignidad. Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961 – 2020“ von Jan Stehle über die deutsche ‚Kolonie der Würde‘ (Colonia Dignidad) in Chile beschreibt die Geschichte und Bedeutung des aus der Zeit gefallenen, abgeschotteten Ortes gläubiger Arbeitssklaven und ihrer Bewacher_innen.

 

Buchcover

1961 wurde die Colonia Dignidad errichtet, um den sexuellen Missbrauch von Jungen durch den Gründer und Leiter Paul Schäfer zu ermöglichen. Das Buch beschreibt, wie die bundesdeutsche Politik jahrzehntelang nicht hinschauen wollte und wie mühsam Menschenrechtler_innen hier wie dort um jedes bisschen Öffentlichkeit kämpfen mussten, gegen mutwillige Ignoranz und gegen mächtige Verbündete der Kolonie.

Der Autor ist langjähriger Mitarbeiter im Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile – Lateinamerika (FDCL) und begleitet als Menschenrechtsaktivist die Bemühungen um strafrechtliche und politische Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad. Er analysiert den zeitgeschichtlichen Kontext des Kalten Krieges als einen Grund für den Unwillen der BRD-Behörden einzugreifen, aber auch die perfiden internen Machtmechanismen der Kolonie-Leitung, die eine Schließung des Lagers immer wieder verhinderten. Seine politische Bewertung dieser Vorgänge fällt entsprechend kritisch aus. Jan Stehle dokumentiert und beklagt im Detail, wie immer wieder Chancen vertan wurden, die Täter_innen zu fassen, die Opfer zu schützen bzw. Druck in Chile aufzubauen, um das grausige Treiben zu beenden.

Die Schilderung dieses vermutlich größten Justiz- und Politikskandals der hiesigen Nachkriegsgeschichte hinterlässt Grusel und Wut.

Wer bereits in den 70ern lesen konnte, hat vielleicht 1977 in der Zeitschrift Stern den Bericht über die skandalöse deutsche Kolonie in Chile wahrgenommen. Ein Entkommener berichtet darin von seiner Leidensgeschichte und seiner Flucht in die BRD. Kinogänger_innen haben vor wenigen Jahren womöglich den Film von Gallenberger „Colonia Dignidad. Es gibt kein Zurück“ gesehen und mit Daniel Brühl und Emma Watson gefiebert, ob sie der Folterstätte im Kartoffelkeller der Kolonie (1973 nach Pinochets Putsch) entkommen können. Und in Krefeld vor der Wohnung des Folterarztes Hartmut Hopp konnte mensch 2018 hören, wie Betroffene und Angehörige lautstark versuchten, auf die Straflosigkeit des Zweiten in der Hierarchie der Colonia aufmerksam zu machen.

Diese Spots sind nur ein kleiner Teil der leidvollen Realität im Kontext der Colonia Dignidad. Umfassend beschreibt das im Oktober 2021 erschienene Grundlagenwerk die Geschichte und Gegenwart der Colonia Dignidad. Akribisch, ausführlich und doch gar nicht langatmig untersucht Stehle alle Aspekte dieser politischen und menschlichen Tragödie. Sein Schwerpunkt ist dabei, darzustellen, wie die herrschende Politik und Justiz der BRD dabei gescheitert ist, die Menschenrechtsverbrechen der Colonia Dignidad zu stoppen, zu ahnden und sie angemessen aufzuarbeiten. Warum das so und nicht anders abgelaufen ist, hier in der BRD, ist ein schwer zu fassendes Puzzle aus Realpolitik, Staatsdiplomatie und spitzfindiger Juristerei.

Ein realer Kriminalfall auf ca. 600 Seiten, faktenreich mit vielen Belegen und Zitaten.

Doch zuerst wird das Zustandekommen der deutschen Kolonie im chilenischen Hinterland geschildert. Wie der freikirchliche junge Prediger Paul Schäfer 1961 im nordrhein-westfälischen Siegburg wegen Missbrauchs an Jungen angezeigt wird, daraufhin flieht und seine eigene Sektensiedlung im sicheren Südamerika aus dem Boden stampft. Wie ihm Dutzende folgen, die aus christlich geprägten, armen Verhältnissen kommen, wo Kinder sogar ohne elterliche Begleitung aus Deutschland quasi entführt werden. Wie Schäfer ein abgeschottetes Terrain schafft, nach außen mit Stacheldraht, nach innen mit körperlichen Züchtigungen, Psychoterror und einem streng hierarchischen Kontrollsystem. Wie die mehreren Hundert Mitglieder zu „freiwilligen“ Arbeitssklaven wurden, weil ihr Oberster es ihnen als von Gott gewollte Normalität verkaufte. Das Hauptmotiv, so analysiert Stehle, ist der organisierte Missbrauch der Jungen durch Paul Schäfer. Um diesen Zweck gruppiert sich all die grausame Lebenswirklichkeit der Untergeordneten. Nur eine Reihe weiterer Führungsmitglieder hatte Privilegien und sie wurden zu Mittäter_innen. Sei es, weil sie im Kolonie-eigenen „Krankenhaus“ ruhigstellende Medikamente gaben, sei es durch die Verabreichung von Elektroschocks zur Bestrafung, oder durch Mitwirken an der Folter und Ermordung chilenischer politischer Gefangener in Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst der Pinochet-Diktatur.

So ist schon das ein schwer zu ertragendes Konglomerat zwischen selbst gewählter Gläubigkeit und Zwangssystem hinter Stacheldraht. Und die Leser_in möchte wissen: wie konnte es sein, dass die deutschen Behörden die Augen verschlossen vor dem Leid derer, die z. B. in die bundesdeutsche Botschaft in Santiago de Chile kamen, geflohen vor den Wachen mit den Hunden, um Rettung zu erbitten. Die den Diplomaten erklärten, was ihnen in der Colonia Dignidad widerfahren ist, und trotzdem zurück geschickt wurden, weil die Botschaft so einen „guten, ordentlichen Eindruck von der wohltätigen Kolonie“ hatte. Ein Anruf genügte, sie wurden, als psychisch krank und verlogen dargestellt, von ihren Peinigern abgeholt und zurück verfrachtet. In der Colonia Dignidad unterschrieben sie unter Druck ein Papier, dass es ihnen Leid tue, abgehauen zu sein, sie seien sehr gern wieder „zu Hause“. So wurden auch alle besorgten Nachfragen der Angehörigen in der BRD abgewiesen, es stand ja schwarz auf weiß, dass es ihnen gut gehe.

Stehle arbeitet heraus, dass es die guten Beziehungen zwischen den beiden Staaten BRD und Chile waren, die nicht gefährdet werden durften. Dass der Kalte Krieg genug Krieger auf BRD-Seite fand, denen der antikommunistische Diskurs der Kolonieführung gefiel. Und schließlich waren die Koloniebewohner_innen fleißig und unterwürfig, ganz die deutsche Art. Die angeblichen Wohltätigkeiten für die arme, chilenische Landbevölkerung der Gegend waren immer ein Argument auf beiden Seiten, das Projekt nicht zu gefährden. Schließlich gab es zum schönen Schein ein ’Krankenhaus’ und ein ’Internat’, auch wenn jenes vom chilenischen Staat finanziert wurde und das Internat eher dem Schäfer Jungs zuführte, statt sie zu unterrichten.

Und als dann Pinochet putschte, der Folterkeller des Geheimdienstes DINA auf dem Koloniegelände publik wurde, glaubten die deutschen Behörden den Zeug_innen nicht, waren es doch meist linke Studis, die mundtod gemacht wurden. Sogar mehrere Dutzend Ermordete, vergraben auf dem Siedlungsgelände, gehen vermutlich auf das Konto der deutschen Mittäter der chilenischen Diktatur.

Wie schwer es Journalist_innen und aufklärerischen Aktivist_innen gemacht wurde, die grausamen Tatsachen ans Tageslicht zu holen und vor Gericht zu bringen, zieht sich durch Stehles Schilderungen. Amnesty International und der Zeitschrift Stern wurde schon 1977 der Prozess gemacht, weil die Colonia Dignidad sie anzeigte wegen Verleumdung. 20 Jahre lang durften sie nichts kritisches veröffentlichen, weil die bundesdeutsche Justiz das Gerichtsurteil abwarten wollte, und das zog sich. Die Colonia Dignidad hatte von Beginn an sehr viel Energie und Geld in Anwälte und Gegen-Aufklärung gesteckt, das machte sich bezahlt. Wer floh, wer aufklärte, wer anklagte, wurde selbst zum chilenischen oder bundesdeutschen Justizopfer. Die Aufgabe der Aufklärung der Straftaten der Colonia Dignidad, als sie dann nicht mehr gedeckelt werden konnten, schoben sich die Zuständigen in Chile und der BRD ständig hin und her. Und auch nach Ende der chilenischen Diktatur 1990 wirkten noch die alten, der Colonia Dignidad hilfreichen Seilschaften in den Behörden weiter.

Erst 1996, als eine chilenische Mutter den Missbrauch ihres Sohnes anzeigte, wurde ernsthaft in die Kolonie eingeritten und durchsucht. Paul Schäfer floh nach Argentinien, es gab jedoch keine Zielfahndung nach ihm. Erst die Recherche von Aktivist_innen führte 2005 zu seiner Festnahme. 2010 starb er im Gefängnis in Chile.

Und immer noch gibt es Täter, die vor den strafrechtlichen Ermittlungen in Chile in die BRD geflohen waren. Sie genießen juristischen Schutz, da die BRD Menschen mit deutschem Pass nicht ausliefert. Um sie hier anzuklagen, fehlen angeblich ausreichende Beweise für ihre Täterschaft. Mit dieser Begründung wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Ermittlungsverfahren wieder eingestellt, kein einziges Verfahren wurde eröffnet. Ein Skandal, der vor allem den Opfern nicht gerecht wird. Jan Stehles Verdienst ist es, all die Zusammenhänge zu bennennen, die dazu führten.

Jan Stehle: -> „Der Fall Colonia Dignidad„, Oktober 2021, Transcript-Verlag, 644 Seiten, kartoniert mit Abbildungen, 29 Euro

Eine gute Freundin des Links-Lesen.de-Kollektiv im Januar 2022
Bisherige Rezensionen und Interviews zum Buch:

Neues Deutschland (Ute Löhning) vom 20.12.2021, S. 13, „Kein hinreichender Tatverdacht

Süddeutsche Zeitung (Peter Burghardt) vom 29.11.2021, S. 24 (Das Politische Buch) „Wahn statt Würde

Nürnberger Menschenrechtszentrum (Rainer Huhle) vom 24.11.2021 „Rezension zum Buch von Jan Stehle: Der Fall Colonia Dignidad

Deutsche Welle spanisch (Victoria Dannemann) vom 17.11.2021, „Colonia Dignidad: “Alemania es corresponsable tanto a nivel de la diplomacia como de la justicia

Lateinamerika Nachrichten (Max Welch-Guerra) Nov/Dez 2021 Nr. 569/570, „Verbrechen unter deutscher Schirmherrschaft