Alois Berger: Föhrenwald, das vergessene Schtetl. Die letzte jüdische Siedlung in Europa

Manchmal kommt mensch bei der Lektüre eines Buches aus dem Erstaunen nicht raus, wenn es einem Autor gelingt, eine jahrzehntelang verdrängte und vergessene Geschichte aus der westdeutschen Nachkriegszeit dem Vergessen zu entreißen. Alois Berger nimmt die Leser*innen mit Föhrenwald – Das vergessene Schtetl“ mit auf den Weg seiner eigenen Entdeckungen.

Berger wurde 1957 in Föhrenwald in einer ehemaligen Mustersiedlung der Nazis geboren. Über die Geschichte seiner Siedlung nach dem 2. Weltkrieg herrschte sowohl in der Familie wie der Schule Schweigen. Kurz vor seinem Abitur wird er aufgrund von Hinweisen seiner Geschichtslehrerin auf die verdrängte kurze jüdische Geschichte des Ortes hingewiesen.

Von 1945 bis 1957 lebten im oberbayerischen Wolfratshausen, im Ortsteil Föhrenwald zeitweise mehr als 5000 Juden und Jüdinnen. In den 12 Jahren waren es mehrere Zehntausend, die durch das Lager gingen, manche blieben nur Wochen, andere verbrachten ihre gesamte Kindheit dort.

Die ersten kamen mit den Todesmärschen aus dem KZ Dachau 1945 in das Lager. Das Camp entwickelte sich zu einem Rückzugsort für Juden und Jüdinnen und besaß als Schtetl unter anderem bald drei Synagogen, Kultur-und Sportstätten, Geschäfte und sogar eine eigene jüdische Polizei. Bis 1951 hatten die deutschen Behörden keinen Zutritt, sondern das Schtetl stand unter Aufsicht der US-Besatzungsverwaltung. 1957 wurde Föhrenwald von der Katholischen Kirche aufgelöst, die restlichen Bewohner auf deutsche Großstädte verteilt. Föhrenwald wurde in Waldram umbenannt und aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht.

Der Altnazi Theodor Oberländer hatte 1954 als Staatssekretär für Flüchtlingsfragen das Gebiet der katholischen Kirche übergeben, die dort deutsche Heimatvertriebenen ansiedelte, sukzessive die Häuser der jüdischen Displaced Person okkupierte und für kinderreichen Sudetendeutschen bereitstellte.

2017 nimmt Berger seine Recherchen zu Föhrenwald auf, interviewt ältere Frauen aus seinem Heimatort, die am Sabbat den jüdischen Campbewohnerinnen die Öfen versorgten und das Licht einschalteten. Fährt nach Frankfurt, Berlin und Tel Aviv und spricht mit Jüdinnen, die ihre Kindheit im Schtetl verbracht haben. Sie berichten ihm, wie es ihnen und ihren Eltern nach Kriegsende erging. Die Millionen von Zwangsarbeiterinnen und Kriegsgefangenen konnten in ihre Heimatländer zurückkehren. In Deutschland blieben jene, die nicht wussten, wohin. Ihre Familien waren ausgelöscht. Bald kamen neue DP’s hinzu: Bis zu 200.000 Juden und Jüdinnen verließen 1946 nach den Pogromen im polnischen Kielce in einer erneuten Fluchtwelle die osteuropäischen Länder Richtung Westen.

Ruhe würden sie nur finden in einem eigenen Staat, einem jüdischen Staat, in dem sie keine Angst mehr haben müssten, (…) von einer nichtjüdischen Mehrheit zum Sündenbock gemacht und massakriert zu werden„,

schreibt Berger. Darüber verhandelte bald nach Kriegsende der spätere erste Präsident Ben Gurion mit General Eisenhower; und zwar sollten Teile Oberbayerns von den Deutschen geräumt werden und dort die überlebenden Jüdinnen angesiedelt werden. Doch dieser Plan ist Ende ’46 aufgegeben worden.

Berger entdeckt im Verlauf seiner Recherche kaum zu glaubende Geschichten. So bildete in einem benachbarten ehemaligen HJ-Lager die israelische Untergrundorganisation Haganah mit Wissen des US-Geheimdienstes bis zur Staatsgründung Israels 1000 Kämpfer aus dem Lager Föhrenwald für die israelische Armee aus. Oder dass mehr als 3000 Jüdinnen als Illegale wieder nach Deutschland, nach Föhrenwald zurückkamen, weil sie sowohl das Klima und die permanente Kriegssituation in dem jungen Staat Israel nicht aushalten konnten oder wollten. Israel hatte ihnen verboten nach Deutschland zurück zu kehren.

Das Schweigen und Vergessen ist heute auch in Wolfratshausen durchbrochen. Seine ehemalige Geschichtslehrerin hat 2018 dafür gesorgt, dass auf dem alten Lagergelände ein kleines Museum im ehemaligen jüdischen Badehaus geschaffen wurde.

Mit spürbarer Empathie ist dem Autor ein sehr persönliches Buch gelungen, in dem sich die Lokalhistorie in der Weltgeschichte spiegelt. Es ist zugleich eine anschauliche Geschichte der jüdischen DP’s in der Nachkriegszeit. Ein sehr lesenswertes Buch.


Alois Berger: „Föhrenwald, das vergessene Schtetl. Die letzte jüdische Siedlung in Europa“ // März 2023 // Piper-Verlag // 240 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag // 24,- €


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