Carolin Amlinger / Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit

Die beiden an der Uni Basel tätigen Wissenschaftler*innen Amlinger und Nachtwey haben sich bereits früh auf den Weg gemacht, um die politisch-soziologischen Auffälligkeiten rund um die Corona-Pandemie akademisch zu untersuchen. Sie führten eine Reihe von Interviews und mehr als 1000 Online-Umfragen mit Personen, die gegen die staatlichen Maßnahmen auf die Straße gingen und bereiteten sie wissenschaftlich auf. Das vorliegende 478 Seiten starke Buch „Gekränkte Freiheit“ ist das vorläufige Ergebnis ihrer Evaluation. Mit dem Untertitel „Aspekte des libertären Autoritarismus“ versuchen sie, eine neue Figur in den politischen Diskurs einzuführen.

Historisch knüpfen Amlinger und Nachtwey an den Forschungen der Kritischen Theorie an, welche von den Hauptprotagonisten Adorno und Horkheimer begründet wurden und auch als „Frankfurter Schule“ berühmt wurden. In der „Dialektik der Aufklärung“ von 1947 verarbeiteten Horkheimer und Adorno zwei gesellschaftliche Erfahrungen, die für das 20. Jahrhundert im Westen prägend waren: kapitalistische Massendemokratie und Faschismus. Sie kamen u.a. zu dem Ergebnis, dass die Gefahren von Autoritarismus und Unfreiheit nicht jenseits der modernen Gesellschaft lauern, sondern sich aus ihrer inneren Beschaffenheit heraus zu entwickeln drohen. Bereits vor der Veröffentlichung von Dialektik der Aufklärung hatte Adorno zusammen mit anderen in Berkeley seine berühmten „Studien zum autoritären Charakter“ durchgeführt. Als deprimierendes Ergebnis wurde u.a. festgehalten, dass viele Gruppen der US-Gesellschaft antidemokratische Einstellungen aufwiesen.

Vieles von dem ist hochaktuell, wie die Autor*innen betonen. Sie verorten den libertären Autoritarismus nicht als irrationale Bewegung gegen, sondern als Nebenfolge spätmoderner Gesellschaften, des Dranges nach Individualität, des Neoliberalismus. Amlinger/Nachtwey unterscheiden die Verwirrten der heutigen Tage in mehrere Untergruppen wie „gefallene Intellektuelle“, „regressive Rebellen“ und einige mehr. Viele dieser Figuren kommen von links und haben sich auf eine weite und lange Reise nach rechts begeben. Wobei vielen von ihnen gemein ist, dass sie sich keinesfalls autoritären Führern unterordnen wollen. Als einzige Autorität wird das eigene Ich anerkannt, alle anderen sind demzufolge dumme Schlafschafe. Freiheit wird zunehmend nur als die eigene individuelle Freiheit wahrgenommen, die Freiheit der Andersdenkenden wird abgewertet. Solidarität kommt überhaupt nicht mehr vor.

Konkret geht es gerade den „gefallenen Intellektuellen“ und anderen weißen Männern um den eigenen persönlichen Machtverlust. Andere gesellschaftliche Gruppen drängen mit Macht nach mehr Einfluss, was den Anteil der alten Eliten natürlich beschneidet. Die „gute alte Zeit“, wo man (!) ja schließlich noch alles sagen konnte und nach der sich Privilegierte sehnen, war für viele andere eben nicht so gut. Frauen mussten sich bspw. in der alten BRD noch eine berufliche Tätigkeit lange Zeit von ihrem Ehemann genehmigen lassen.

Ein gutes Buch – wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse aus profunder linker Sicht und ohne Schaum vor dem Mund machen es sehr lesbar.


Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey: „Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus“, Suhrkamp, 478 Seiten, Fester Einband mit Schutzumschlag, 28,- €


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