Joseph Ponthus: Am laufenden Band

Bereits der Untertitel „Aufzeichnungen aus der Fabrik“ verrät, worum es geht – Arbeiterliteratur und zwar verdammt gute. Joseph Ponthus ist sein eigener Protagonist und schreibt im wahrsten Sinne des Wortes ohne Punkt und Komma über das Leben in der Fabrik – hier konkret einer Fischfabrik und einem Schlachthof. Er tut dies in freien Versen, ähnlich wie in „Annette – ein Heldinnenepos“, und dies sollte niemanden davon abhalten, diese tolle Buch zu lesen.

Buchcover, vor Meer am Strand fotografiert

Gewidmet ist „Am laufenden Band“ „den Proletariern aller Länder“, was aber mehr über den Standpunkt des Autors aussagt, als über seinen Schreibstil. Und keine Bange – der Inhalt ist Arbeiterliteratur, aber keinesfalls ML-lastig o.ä..

Mira Lina Simon und Claudia Hamm haben es als Übersetzerinnen sicherlich nicht zuletzt aufgrund der Versform schwerer gehabt, als bei anderen Büchern. Aber die Übersetzung scheint verdammt gut gelungen zu sein!

Jospeh Ponthus geht nicht mit dem Vorsatz in die Fabrik, um bspw. über entfremdete Arbeit zu schreiben. Banaler ökonomischer Druck plagt ihn nach 10 Jahren als Sozialarbeiter in den Banlieues von Paris und dem Umzug in die Bretagne der Liebe wegen. Seine Liebste hat ihm auch den nötigen Tritt in den Hintern versetzt, damit er mal von der Couch hochkommt und auch Geld nach Hause bringt. So landet er bei einem Sklavenhändler (ein früherer Begriff für „Zeitarbeitsfirma“), der in ihn erst in die Fischfabrik und später in den Schlachthof schickt.

Dort schafft er es meisterhaft und auch mit einer gewissen Portion Selbstironie die unmenschlichen Verhältnisse der Fabrik zu beschreiben. Das ambivalente Verhältnis zu den Kolleg*innen, mit denen er jeden Tag am Fließband steht und wo alle auf die anderen angewiesen sind, damit der Job erledigt wird. Und wo es dennoch wehtut, wenn denjenigen, die immer zu spät kommen, die schlecht arbeiten, wodurch andere noch mehr arbeiten müssen, vom Chef zusammengestaucht werden. Auch der Rassismus und Sexismus von einigen Kolleg*innen wird nicht ausgespart, genauso wenig wie seine eigenen Unvollkommenheiten. Ponthus beschreibt auch seine Träume bei Arbeitskämpfen, wie militant die Demos aussehen könnten, an denen er nicht teilnehmen kann, da er als Leiharbeiter nicht streiken darf. Seine Reflexionen, wie fertig er nach der Schicht ist, und Analysen, wie grausam das System Fabrik zu Angehörigen der Arbeiter*innenklasse ist, sind immer konkret und nie abstrakt. Der Terror des Weckers vor der Schicht, die immer zu kurzen Pausen und Wochenenden, die zur Reproduktion nie ausreichen, der Klassenhass auf die Chefs, die Willkür der Vorgesetzten, die ständige Erschöpfung, die Kälte und vieles mehr beschreibt Ponthus präzise und parteiisch. Genau darin liegt die absolute Stärke dieses Buches.

Ein großes Stück Arbeiterliteratur und vermutlich kein Zufall, dass es aus Frankreich kommt. Auch wer/welche bereits „Der Dschungel“ von Upton Sinclair gelesen hat und glaubt, dass damit alles im Bereich der Lebensmittelindustrie gesagt war, sollte sich diese „Aufzeichnungen aus der Fabrik“ reinziehen.

Das Buch wurde in Frankreich mehrfach ausgezeichnet, der Autor starb leider viel zu früh Anfang 2021.


Joseph Ponthus: „Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik“ 2021, Matthes & Seitz Verlag, 240 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag


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