Die Schwalben von Montecassino
Die „Schwalben von Montecassino“ sind keine einfache, keine leichte Lektüre – aber um so mehr eine aufschlussreiche. Historischer Ausgangspunkt des Romans ist die Schlacht 1944 um die alte Benediktiner-Abtei von Montecassino: Das Kloster lag auf der 161 km langen deutschen ‚Gustav-Linie’, die den Vorstoß der Alliierten in das Landesinnere Italiens aufhalten sollte. Soldaten aus verschiedensten Ländern versuchten hier, Richtung Rom voranzukommen. In den vier Monate lang dauernden blutigen Schlachten starben Tausende Soldaten und italienische Zivilist*innen, die sich dort hinein geflüchtet hatten.
Helena Janeczek ist Tochter jüdisch-polnischer Eltern. Diese hatten den Holocaust im Versteck und im KZ überlebt und gelangten als ‚displaced persons‚ nach München, wo Janeczek geboren wurde. Seit ihrem Studium lebt und arbeitet sie in Italien. In den Roman webt die Autorin eigene familiäre Hintergründe ein. Das Buch ist ein zusammengesetztes Puzzle aus Erinnerungsstücken, Recherche, Rekonstruktion eigener Familiengeschichte, Fiktion und Archivdokumenten.
Janeczek lässt als Akteur*innen die unterschiedlichsten Soldaten auftreten, die in der Schlacht von Montecassino kämpften: da ist z.B. der junge Texaner John Wilkins aus Texas. Er wurde als Sergeant der 36. US-Infanterie-Division unter General Clark zusammen mit über 1000 anderen Soldaten zum Kanonenfutter. Bei einem umstrittenen und erfolglosen Angriffsversuch über den Fluss Rapido kam er ums Leben. Eine weitere Figur ist der Maori Charles Maui Hira aus Neuseeland. Dessen Enkel reist mehr als 50 Jahre später auf seinen Spuren nach Italien, um die Beteiligung neuseeländischer Kämpfer in diesem Krieg nachzuvollziehen – eine der vielen kleinen eher unbekannten Episoden dieses im wahrsten Sinne des Wortes ‚Weltkrieges‘.
Die – verlustreiche – jüdisch-polnische Selbstbehauptung im Kampf gegen die Nazis in der Exilarmee des General Anders wird im Lied Czerwone maki na Monte Cassino (Roter Mohn am Monte Cassino) glorifiziert. Für die Autorin hat die Befreiung von Italien auch durch polnische Soldaten eine große Bedeutung und wird im Buch facettenreich beschrieben.
In einem weiteren Erzählstrang begeben sich zwei junge Mailänder Schüler zu einer Gedenkveranstaltung am Soldatenfriedhof von Montecassino. Die reiche Familie des einen kommt aus Indien, der andere hat polnische Wurzeln. Die beiden verfolgen ein gemeinsames politisches Projekt aus der aktuellen polnisch-italienischen Gegenwart: sie forschen unter den Veteranen und Angehörigen nach verschwundenen polnischen Wanderarbeitern.
Janeczek lässt ihre Protagonist:innen große intergenerationelle Themen durchleben, die nicht immer nur Traumata sind. Es gelingt ihr dadurch, Vergangenheit in die Gegenwart ragen zu lassen. Das wird verstärkt durch die Szenen, in denen sie eigene biografische Bezüge und ihren Rechercheprozesses nachzeichnet. Historische Ereignisse werden in kleine, persönliche Geschichten aufgefächert und damit neu erzählt. Dadurch gelingen Helena Janeczek viele Perspektivwechsel und eine lebendige erinnerungspolitisch wertvolle Geschichtsschreibung.
Helena Janeczek: „Die Schwalben von Montecassino“ // 2022 // Piper-Verlag // Übersetzt von: Verena von Koskull // 432 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag // 24,- €
Links-Lesen.de-Kollektiv im Mai 2024