Leonardo Sciascia: Die Affaire Moro. Ein Roman

Erschienen ist das Buch „Die Affaire Moro. Ein Roman“ in der noch jungen edition converso. Monika Lustig ist sowohl die Übersetzerin wie Verlegerin und veröffentlicht Literatur aus vielen mediterranen Regionen. Sie hat lange in Italien gelebt und ist großer Fan des sizilianischen Autors Leonardo Sciascia, der mit vielerlei Büchern über die Mafia bekannt wurde, aber auch als Abgeordneter des Partito Radicale im italienischen Parlament saß. In einer aufwendig gestalteten Ausgabe samt dickem Einband ist Sciascas Werk nun neu übersetzt und veröffentlicht.

Buchcover "Die Affaire Moro" fotografiert vor einer Teekiste mit einer schwarzen Katze im Vordergrund

Das Buch über die Entführung des Vorsitzenden der Democrazia Christiana (DC) durch die Roten Brigaden (Brigate Rosse, im folgenden BR) im Frühling 1978 trägt nicht umsonst den Untertitel „Ein Roman“. Sciascia hat diesen in einem Rutsch niedergeschrieben und war damit bereits im August 1978 fertig. Dieser Roman ist nur ein Teil dieser Neuauflage, sie beinhaltet ebenfalls den Bericht der Minderheit der Parlamentarischen Untersuchungskommission zum Fall Moro, welcher ebenfalls vom Autor damals vorgelegt wurde und ein Nachwort von Fabio Stassi.

Den in dieser Geschichte unerfahrenen Leser*innen dürfte geraten werden, mit der auf Blatt 151ff. versteckten Zeittafel der Moro Entführung zu beginnen.

Die Entführung von Aldo Moro durch die BR ist ein italienisches Trauma. Sie beginnt in Rom in der Via Fani, wo das BR-Kommando Moros Leibwächter und seinen Chauffeur tötet und endet 55 Tage später in der Via Caetani, wo Moros Leiche aufgefunden wird. Jedes Detail in diesem Drama wird beachtet, analysiert und interpretiert. Nicht selten werden spekulative Schlüsse über vermeintliche Hintermänner und Drahtzieher gezogen. So wird u.a. auch der Auffindeort von Moros Leiche in der Via Caetani gemäß der These, dass die Entführung sich gegen den historischen Kompromiss der Zusammenarbeit von DC und PCI richtete, als bewusst gewählter Ort mit Hintergedanken bezeichnet, da die Via Caetani sich zwischen den Sitzen beider Parteien befindet.

Anders als die RAF mit der Schleyer Entführung agierte, war die Entführung Moros durch die BR nicht lediglich als militärische Aktion angelegt, sondern hatte auch einen eigenständigen politischen Charakter und war von vornherein als lang angelegter Prozess geplant. Es wurde nicht direkt nach der Entführung die Freilassung von Gefangenen gefordert, sondern im ersten Kommunique wird mitgeteilt, dass Aldo Moro im Namen der DC der Prozess gemacht wird. Während der Entführung gehen Anschläge der BR und anderer bewaffneter Gruppen in Italien weiter. Erst einen Monat später erklären die BR, dass der Prozess abgeschlossen und Moro zum Tod verurteilt worden ist. Ein paar Tage später wird die Bereitschaft zur Begnadigung Moros im Austausch gegen Gefangene erklärt. Abgesehen von der Selbstüberschätzung, selbst wie eine Art Staat agieren zu können. inklusive Gewaltenteilung wie funktionierendem Justizsystem, ist das Vorgehen der BR ein Ausdruck ihrer damaligen politischen Stärke und relativen Verankerung. Denn eine Entführung von vornherein auf einen so langen Zeitraum festzulegen und sich sicher zu sein, dem immensen Fahndungsdruck standhalten zu können, ist ein Ausdruck einer gewissen Selbstsicherheit.

Der Autor Leonardo Sciascia erscheint in erster Linie wütend. Wütend auf die BR und wütend auf die DC, die gemäß der harten Linie – vorgegeben durch die BRD während der Schleyer Entführung ein halbes Jahr vorher – nicht mit den Roten Brigaden verhandelt und ihren Vorsitzenden opfert. Er analysiert die Briefe Moros aus dem sog. Volksgefängnis der BR, sucht nach versteckten Hinweisen auf den Ort, wo Moro festgehalten wird (als wenn dieser das gewusst haben wird) und weiteren versteckten Botschaften – teilweise in etwas übertriebener Manier. Der Mensch Moro, der um sein Leben kämpft, steht im Mittelpunkt von Sciascia, nicht der mächtige Politiker und Strippenzieher. Viele der Briefe an seine Parteifreunde sind Teil dieses Romans sowie die Darstellung und Analyse der abwehrenden Reaktionen der DC-Spitzenpolitiker (damals alles Männer, daher nicht gegendert). Moro fordert Verhandlungen und will überleben, in psychologischer Schuldabwehr denunziert ihn die DC als unter Drogen stehend, nicht er selbst, sondern eine psychisch gestörte Person zu sein. Was Sciascia nicht erwähnt, ist die naheliegende These, dass Moro aus Gründen der Staatsraison wohl im Endeffekt genauso gehandelt hätte, wenn ein anderer und nicht er entführt worden wäre. Dennoch kämpft der Mensch Moro nachvollziehbar um sein Überleben und bemüht in seinen Briefen an seine vermeintlichen Freunde bis hin zum Papst all seinen politischen Einfluss und Überredungskunst hinsichtlich einer Verhandlungslösung. Sciascia sieht zwar einen betonharten Block ohne Risse bei der DC, die Verhandlungen mit den BR kategorisch ablehnt und jedes noch so minimales Zugeständnis verweigert, meint aber bei den BR Haarrisse zwischen Kommando und strategischer Führung zu erkennen. Dies wird aber ausschließlich durch ein, zwei Worte aus einem der letzten Briefe Moros und dem anschließenden Kommunique der BR (über)interpretiert.

Buchcover

Buchcover

Politisch interessant ist z.B., wie unterschiedlich Sciascia und die Roten Brigaden das „falsche“ Kommunique Nr. 7 interpretieren, was entgegen der Tatsachen am 18. April den Tod Moros verkündet. Sciascia glaubt aus wenigen, nicht sehr stichhaltigen Indizien interpretieren zu können, dass dieses Kommunique sehr wohl von den BR stammt und meint, ein politisches Interesse der BR am Inhalt nachweisen zu können. Dagegen erklärt Mario Moretti, Leiter des BR-Kommandos, „es war falsch. Alles an diesem Kommunique war falsch, das war offensichtlich“

(„Brigate Rosse – eine italienische Geschichte“ im Gespräch mit Rossana Rossanda und Carla Mosca, Seite 163). Die BR analysieren das Kommunique so, dass es staatlichen Interessen diente, indem es die Bevölkerung auf den Tod Moros vorbereiten und somit eine Art Testlauf hinsichtlich der öffentlichen Reaktionen auf seinen realen späteren Tod sein sollte.

Drei Jahre später wird in Italien die Existenz der Geheimloge P2 öffentlich. Ein Staat im Staate, höchste Politiker, Geheimdienstler und Militärs waren dort Mitglied. Im staatlichen Krisenstab während der Moro-Entführung waren von zwölf Mitgliedern elf P2 Mitglieder. Scascia konnte während seiner Arbeit an dem Roman davon noch nichts wissen. Es ist aber nicht nachvollziehbar, warum in der jetzigen Neuveröffentlichung der Begriff P2 nicht ein einziges Mal fällt, sondern lediglich im Hinweis des Verlagsprogramms auf das Buch Erwähnung findet.

Insgesamt kein Buch zum Einsteigen in den Komplex der ‚bleiernen Zeit‘ Italiens. Aber mit (wenigen) Vorkenntnissen ein lesenswerter Beitrag aus der Perspektive eines Schriftstellers und zeitweiligen Politikers zum italienischen Drama ab dem Jahr 1969 zu den Themen bewaffneter Kampf, Strategie der Spannung, tiefer Staat, Gladio usw.


Leonardo Sciascia: „Die Affaire Moro. Ein Roman“ // März 2023 // edition converso // 240 Seiten gebunden mit Lesebändchen // 24 Euro


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