Und noch ein Büchertisch voller linker Italienbücher

Bücher aus Italien

  • In Claudio Magris „Verfahren eingestellt“ wird anhand einer Familiengeschichte in Triest italienische Geschichte erzählt: es geht um das Habsburgerreich, um Sklaverei bis hin zur deutschen Besatzung der Stadt 1943. Entlang von Luisa, Tochter einer Jüdin und eines afroamerikanischen Leutnants werden Geschehnisse im italienischen Faschismus und Verbrechen der SS anschaulich und wortgewaltig rekonstruiert – aber auch das Vertuschen und Vergessen: Verfahren eingestellt…
    Am 12. August 1944 verübten SS-Truppen ein Massaker an über 500 Dorfbewohner*innen im toskanischen Sant’Anna di Stazzema. In Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema‚ finden sich Erinnerungen des Überlebenden Enio Mancini und juristische Einordnungen.
  • Das Tagebuch des US-amerikanischen Nachrichtenoffiziers Norman Lewis: „Neapel ’44“ beschreibt seine Eindrücke aus dem zerbombten Neapel 1943-1944, das nach erbitterten Kämpfen von den Faschisten befreit worden ist. Lewis verzeichnet Gewalt, Unfähigkeit, Not, Witz und Erfindungsgeist der Bewohner*innen dieser Stadt, denen er viel Empathie entgegenbringt. Nachvollziehbar wird auch der schnelle Wiederaufstieg der Camorra und Lewis‘ eigene Skepsis gegenüber der Besatzungspolitik. Eine schöne Veröffentlichung vom kleinen Folio-Verlag“ aus Wien, der durch viele Übersetzungen ein interessantes Literatur- und Sachbuchprogramm auch aus dem italienischen und südosteuropäischen Raum zugänglich macht.
    Historisch schließt hier, im Neapel der 50er Jahre der erste Band der großen Tetralogie von Elena Ferrante an: „Meine geniale Freundin“. Eine „neapolitanische Saga“ (nicht nur) für alle Feministinnen, für Freund*innen, Mütter und Töchter darüber, wie Lebensgeschichten inmitten gesellschaftlicher Prozesse wie Armut, Aufstieg, Gewalt, Sexismus und Mafia so viele Wege und Wendungen nehmen können. Der Roman führt immer wieder nach Neapel zurück – aber über diesen Städetbezug hinaus ist es eine großartige vierbändige Reihe, um Italien besser zu verstehen. Oder auch: der Stoff aus Didier Eribon: Rückkehr nach Reims“ als Roman geschrieben.
  • A propos Trilogie: Nanni Balestrini: „Die große Revolte“ ist, wie der Verlag Assoziation A schreibt: „das literarische Vermächtnis der Revolte in Italien“. Es geht um die Kämpfe im Turiner FIAT-Konzern und damit um die Strömung des Operaismus, der ‚anderen Arbeiterbewegung‘. Die Entstehung der Autonomia um 1977 mit ihren Massendemonstrationen, Supermarktplünderungen, Hausbesetzungen, dem Aufbau linker sozialer Zentren und unabhängiger Medien wird überaus lebendig, radikal und inspirierend erzählt.
    Der Tod des Verlegers Feltrinelli bei einem Bombenanschlag auf einen Strommast führt ein in die militante Geschichte, in die Auseinandersetzungen um den bewaffneten Kampf, Brigate Rosse, Lotta Femminista, Lotta Continua oder Potere Operaio – schließlich erfolgt die Inhaftierung Tausender linker Aktivist*Innen. Auch Balestrini, der in verschiedenen Gruppierungen, Zeitschriften und Druckkollektiven engagiert ist, wird 1979 „Zugehörigkeit zu einer subversiven Vereinigung“ vorgeworfen, woraufhin er auf Skiern über die Alpen nach Frankreich flüchtete.

    -> Linke Geschichte Italiens, in drei Romanen – ein Muss!

  • Wer Gefallen daran gefunden hat, kann auch noch „Sandokan“ von Balestrini lesen, eine Camorra-Geschichte, die im süditalienischen Kampanien spielt und die gesellschaftlichen Zusammenhänge von organisierter Kriminalität, Gewalt und Mafia im verarmten Süden zum Thema hat.
  • Nach Sardinien führt die letzte Empfehlung von Balestrini: „Carbonia. Wir waren alle Kommunisten“, erschienen im tollen selbstverwalteten österreichischen Verlag bahoe books (mit Sitz in Wien und Thessaloniki): erzählt wird Arbeitergeschichte, verknüpft mit weiter zurück liegenden Erfahrungen aus der Resistenza, der Verfolgung durch die Deutschen bis hin zu den harten Arbeitskämpfen in den Kohleminen – kämpferische Urlaubslektüre!
  • Freund*innen des italienischen Autorenkollektivs Wu Ming, die früher als Luther Blissett den großartigen Bauernkriegsroman von unten „Q“ veröffentlicht hatten, können sich auch an „Kriegsbeile“ versuchen: gemeinsam mit dem ehemaligen Partisan Vitaliano Ravagli werden hier zum Teil tief vergrabene Widerstandsgeschichten rekonstruiert und in Beziehung zueinander gesetzt: die großen und kleinen Kämpfe der Resistenza gegen die Faschisten und deren Verfolgung in der Nachkriegszeit, Tutte Bianche und NoBorder-Aktivist*innen heute bis hin zur Geschichte derjenigen Brigadisten, die aus Europa in den Indochinakrieg zogen, um an der Seite der Vietminh zu kämpfen. Das Buch ist sowohl ein hartes Stück (männlicher) Kriegsgeschichte, aber auch wieder Rekonstruktion beinah vergessener Kämpfe.
  • Eine ganz andere, leisere Geschichte und gleichzeitig ein entlarvendes Gesellschaftsporträt gelingt in Giorgio Bassani: „Die Brille mit dem Goldrand“, wieder vom italophilen Wagenbach-Verlag: ein anerkannter Arzt der guten Gesellschaft in Ferrara in der Emilia-Romagna verliebt sich um 1919 in einen jüdischen Studenten, womit Homosexualität, bürgerliche Heuchelei, Skandal und aufkommender Antisemitismus als Themen auf der Hand liegen und vom ehemaligen Widerstandskämpfer und jüdischen Literaten Bassani kunstvoll erzählt werden. Am besten vormittags auf der Piazza zum Cappuccino lesen, während die „gute Gesellschaft“ gepflegt vorbeiflaniert…
  • Eine starke Frau, die über Beziehungen und das Scheitern derselben schreibt, ist die in Italien berühmte linke antifaschistische Autorin Natalia Ginzburg: „So ist es gewesen“ ist die lakonisch erzählte Geschichte einer klassischen Dreiecksbeziehung, die mit dem Geständnis der Protagonistin beginnt, dass sie ihren Mann ermordet hat: „Ich habe ihm in die Augen geschossen.“ Anschließend verlässt sie das Haus und trinkt einen Kaffee in einer Bar. Ein schnörkelloser Roman, vielleicht am ehesten für den Single-Urlaub…
  • Als weiteren klassischen Tip empfehlen wir Pier Paolo Pasolini: „Kleines Meerstück“, z.B. bei Reisen ins Friaul im Nordosten Italiens. Die Akteur*innen sind arme Bäuer*innen, Pächter*innen, Tagelöhner*innen, in den Schilderungen entwickeln sich wichtige Themen, die immer wieder in Pasolinis Gesamtwerk auftauchen: soziale Gerechtigkeit, Religion und Homosexualität, entwickelt anhand der Figuren des Dorfschullehrers und des jungen Kaplans. (Folio Verlag Wien) Zum Lesen für die Abende nach langen Wanderungen durch karstiges Hinterland.
  • Wir wollen Euch auch eine Art alternative Reiseführer empfehlen:
    • Feridun Zaimoglu: „Rom intensiv“. Zaimoglu verarbeitet in 54 Kurzgeschichten sein eines Jahr in Rom, das er dort als scharfzüngiger Beobachter im Rahmen eines literarischen Stipendiums verbrachte: ein Rom abseits der klassischen Hotspots und trotzdem mittendrin.

    und

  • In „Bella Ciao“ erzählt Maurizio A.C. Quarello als Comic davon, wie sein Großvater Anführer einer Partisanengruppe in Norditalien war, aber auch welche Rolle die Frauen in diesem Kampf gegen die deutschen Besatzer spielten. Gezeichnet wird auch die Befreiung, die als „Fünf Tage von Turin“ gefeiert wurden, und wo eine erneute Begegnung mit den Deutschen stattfindet…
  • Die Kritikerjury der Jungen Leser aus Wien hat dieser Graphic Novel aus dem kleinen Verlag Jacoby & Stuart den Sonderpreis 2017 verliehen.
    Carmine Abate entführt in „Der Hügel des Windes“ nach Kalabrien und erzählt die nicht immer heroische Geschichte einer Bauernfamilie, gegen (faschistische) Großgrundbesitzer, gegen die Mafia, gegen Tourismusprojekte und gegen Bau von Windrädern – aber es gibt auch noch das alte Familiengeheimnis um zwei erschossene Männer… Schmökern am Strand!
  • Urlaub in Italien ist auch oft Urlaub am Mittelmeer, da liest sich Paolo Rumiz: „Der Leuchtturm“ besonders gut: Drei lange Monate verbringt der in Triest geborene Essayist und Journalist Rumiz auf einem einsamen Leuchtturminselchen, betrachtet tags das Meer und das Wetter, nachts den Lichtstrahl und den Himmel. Dabei sinniert und erzählt er über den Mittelmeerraum und seine kulturelle, wirtschaftliche, kulinarische und historische Bedeutung – kein Roman, ein genaues und gleichzeitig genießerisches, ein „mediterranes“ Nachdenken, das auch vor der Schlechtigkeit des Umgangs europäischer Staaten mit denjenigen nicht haltmacht, die über das Mittelmeer in den Norden kommen wollen. Für alle, die abends beim Wein mit ihren Mitreisenden weiterdiskutieren wollen…
  • Erst dieses Jahr erschien „Über mir die Sonne“ von Alessio Torino, ein coming-of-age-Roman über zwei Schwestern, der auf der Insel Pantelleria vor Sizilien spielt. Die Mutter hat gerade den Vater verlassen, die drei erleben Urlaubssommer, Pubertät, Verlustgefühle und Zusammenhalt, in eindringlicher Sprache erzählt. Für den Familienurlaub? Oder gerade nicht?
  • Der kleine linke Hamburger Laika-Verlag bringt mit Luciana Castellina: „Die Entdeckung der Welt“ eine sehr viel politischere coming-of-age-Erinnerung heraus: Luciana Castellina, die später „il manifesto“ mitbegründete, beschreibt ihre Erinnerungen als Tochter aus reichem Hause. Es geht um ihr politisches Erwachen als Teenagerin im faschistischen Italien, um den Umbruch nach der Befreiung und somit um eine persönlich-politische Entwicklung, die zu ihrem Eintritt in die Kommunistische Partei Italiens 1947 und zum Ausschluss aus derselben führt. Der Verlag schreibt: „»Die Entdeckung der Welt« ist ein Buch über Krieg, Antisemitismus, Antifaschismus, Widerstand, den Glauben an soziale Gerechtigkeit, den Hunger nach Erfahrungen; über Reisen, Kino, französische Intellektuelle und FIAT-Arbeiter, internationale Diplomatie und Freundschaft.“ Ein must-read für Linke.
  • Eine gänzlich andere Perspektive auf die 40er Jahre findet sich in Luce D’Eramo: Der Umweg“. Luce d’Eramo, deren Vater Staatssekretär unter Mussolini war, hört als begeisterte 18jährige Faschistin von Konzentrationslagern – sie reist 1944 nach Deutschland und meldet sie sich freiwillig in die Hölle: Sie wird Fremdarbeiterin der IG Farben in Frankfurt-Höchst. Aus dem Erfahrungstrip wird eine brutale Reise mit vielen Wendungen, auch ideologisch; harter Tobak mit hohem Erkenntnisgewinn, nicht nur für Antifas.
  • Urlaubslektüre bedeutet für viele von uns ja auch Krimis, darum auch aus diesem Genre noch eine Empfehlung, wieder aus dem Folio-Verlag:
    Giorgio Scerbanenco: „Die Verratenen. Duca Lamberti ermittelt“: Der im Milieu der „kleinen Leute“ in Mailand spielende Krimi verhandelt die Problematik, dass Ärzte die sogenannte „Jungfräulichkeit“ junger Frauen wiederherzustellen haben, damit diese einflussreiche und höher gestellte Männer heiraten können… Mehrere mysteriöse Todesfälle tauchen auf, das Netz der Verstrickungen reicht bis in die Zeiten der Partisanen zurück, aber auch eine junge Amerikanerin spielt eine undurchsichtige Rolle.
  • Der kitschige Buchtitel „Die Unvorhersehbarkeit der Liebe“ von Goliarda Sapienza läßt nicht vermuten, dass hier eine emanzipatorische Frauengeschichte aus Sizilien erzählt wird. Aufbruch aus festgefahrenen Rollenbildern und geschlechterstereotypen Verhaltensmustern in einer traditionellen Gesellschaft werden verpackt in eine Lebensgeschichte, die mit viel Sympathie für Rebellion und Freiheitsdrang erzählt wird.
  • Für alle Antifaschist*innen, die nach Italien reisen, oder sich für die dortige extreme Rechte interessieren ist „Casa Pound Italia“ das passende Buch. Heiko Koch geht in diesem Buch vom Unrast-Verlag den historischen Entwicklungen dieser neofaschistischen Gruppe, ihren ideologischen Fundamenten und ihren leider zum Teil sehr erfolgreichen Aktivitäten nach. Nach dem Lesen gilt umso mehr: Siamo tutti antifascisti!
  • Eine Erzählung, die nach der Kriegserklärung Italiens 1943 gegen Deutschland einsetzt: „Agnese geht in den Tod“, geschrieben von der Krankenschwester Renata Viganò, die selbst im Widerstand gegen die Faschisten und Nationalsozialisten aktiv war: Als die alternde Wäscherin Agnese einen einheimischen Soldaten bei sich aufnimmt, verpfeifen die Nachbarn sie an die Besatzer. Ihr Mann wird abgeholt und stirbt noch auf dem Weg ins KZ. In einem Racheakt erschlägt Agnese einen Deutschen. Damit nimmt das Schicksal seinen Lauf: Agnese muss fliehen und schließt sich den Partisanen an. Als Botin auf dem Fahrrad übermittelt sie Nachrichten, transportiert Sprengstoff und Lebensmittel – eine Rolle, die viele viele Frauen in Italien bei den Partisan*innen übernahmen.
  • In seinem ersten Roman „Wo Spinnen ihre Nester bauen“ beschreibt Italo Calvino Krieg und Partisanenwirklichkeit aus der Perspektive eines Jungen, der irgendwo in Ligurien den Krieg wie ein düsteres Märchen erlebt und von der Welt der Erwachsenen magisch angezogen wird. Aber er ist ein Außenseiter. Weil niemand ihn ernst nimmt, versucht er, durch eine Mutprobe auf sich aufmerksam zu machen, und klaut die Pistole eines deutschen Soldaten…
  • Ein neues Sachbuch aus dem Jahr 2020 ist „Italien. Portrait eines fremden Landes“ – ein reiches, ebenso sinnliches wie reflektiertes Italien-Porträt, das die Widersprüchlichkeit und Schönheit dieses faszinierenden Landes mit neuen Augen sehen lässt.
  • In den Erinnerungen :“Halb ländlich. Bozen 1966. Eine Kindheit im „Semirurali“-Viertel“ erzählt Sandro Ottoni vom ärmlichen Leben im neu hingewürfelten Viertel am Rande von Bozen/ Bolzano, wohin während des italienischen Faschismus arme italienische Arbeiterfamilien ziehen sollten, um die Industrialisierung voran zu treiben.
  • Als letzte Empfehlung kommt Carlo Bonini: „ACAB“ – wahrlich ein schlecht gewählter Titel, vermutlich aber passend zu Milieu und Atmosphäre in Rom, die Bonini laut Verlag so beschreibt: „Hooligans, unbändiger Hass, Straßenschlachten – die Polizei im Kampf gegen einen Gegner außer Kontrolle. Nackte Gewalt gehört für eine eingeschworene Gruppe der „Celerini“, der italienischen Bereitschaftspolizei, zur Tagesordnung. Als eingefleischte Anhänger Mussolinis verabscheuen sie den laschen Staat, sind ständigen Auseinandersetzungen mit Ultras und Nazi-Skins ausgesetzt und müssen sich zudem wegen illegaler Übergriffe nach dem G8-Gipfel verantworten. Bonini erzählt vom Irrsinn auf der Straße, einer verdrängten Realität“