Bruno Latour und Nikolaj Schultz: Zur Entstehung einer ökologischen Klasse

Was hat Ökologie mit Klassenkampf zu tun? Auf den ersten Blick erst mal, wenn mensch sich z. B. ‚Die Grünen‘ anschaut, gar nichts. Und doch plädieren die beiden Autoren Latour und Schultz in ihrem im letzten Jahr bei Suhrkamp herausgegebenen Büchlein, „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“ ganz entschieden dafür.

 

Buchcover

Das kurz vor dem Tod des 75 jährigen französischen Philosophen Bruno Latour und des 30 jährigen dänischen Soziologen Nikolaj Schultz verfasste „Memorandum“ übernimmt ganz bewusst den marx’schen Klassenbegriff. Denn nur dieser verweist auf die Notwendigkeit „der gesellschaftlichen Transformation“ (S.13).

Allerdings ist der Klassen-Begriff mit relativ neuen Inhalten zu füllen – und darum geht es in diesem 90-seitigen Buch. Denn die Klimakrise stellt vieles bisher Gewohnte in Frage. Dazu gehört vor allem ein radikaler Bruch mit den materiellen Grundlagen des Klassenkampfs im Zeitalter des Industriekapitalismus. Denn heute kann es nicht mehr um den ‚Fortschritt‘ im Sinne der Hebung des materiellen Wohlstands in den Metropolen gehen. Ganz im Gegenteil ein Paradigmenwechsel ist überfällig: Die (kapitalistische) ‚Moderne’ ist an ihrem Endpunkt im Zuge der Globalisierung angelangt. Die dem Kapitalismus innewohnende ‚Produktionslogik‘ hat nur noch ‚destruktive‘ Folgen für die Natur, für die Erde. Die zukünftigen Klassenkämpfe werden demnach nicht mehr innerhalb der Produktionslogik, u.a. um eine gerechtere Verteilung, ausgefochten, sondern gegen die Produktionslogik.

So hat die sich formierende ökologische Klasse das vordringliche Ziel, „den Erhalt der Bewohnbarkeit der Erde“ für alle Lebewesen zu erreichen. Entgegen der marxschen Dichotomie zwischen Proletariat und Kapital ist die ökologische Klasse komplexer und umfasst u. a. Indigene aus dem Süden, indische Bäuerinnen und Besitzende aus dem Norden; sofern sie sich gegen die weitere Ausbeutung und Inwertsetzung der Natur positionieren. Das schließt neue Bündnisse mit ein, wie auch ein neues Verständnis des ‚Systems Erde‘.

Die ökologische Klasse ist dadurch bestimmt, „dass sie die Welt, in der man lebt, und die Welt, von der man lebt, in ein und demselben Raum miteinander verbindet“ (S.29). Gemeint ist damit, dass der Mensch nur ein Teil der Natur ist, mit zig Millionen anderen Lebewesen. Im Gegensatz zur herkömmlichen Ökologie, die sich vornehmlich den ‚Schutz der Natur‘ auf die Fahnen geschrieben hat, geht die ökologische Klasse davon aus, die politischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen grundlegend zu verändern, um das (kapitalistische) ‚Klimaregime‘ in Zeiten der Globalisierung, welches die Natur nur als ausbeutbare Ressource behandelt, endlich zum Stoppen zu bringen.

In 76 Thesen setzen sich die beiden Autoren auseinander mit den Fragen der Eroberung der (Staats-) Macht, dem „vernachlässigten Kampf um die Ideen“, wie dem Beharrungsvermögen am Staus Quo und wie die dahinter liegenden Affekte durchbrochen werden können.

Latour und Schultz werfen viele Fragen auf (so z. B., wie sieht eine neues ökologisches Klassenbewusstsein aus) und sie beziehen sich an zentralen Punkten auf Marx und Polanyi („The Great Transformation“). Wobei die Klassenzusammensetzung eine völlig andere als zu Marx’s Zeiten sein wird. Das heutige noch Gültige, was ihrer Meinung Polanyi herausgefunden hat, ist der beständige Kampf der „einfachen Leute, der classes populaires“ gegen die Ökonomisierung ihres Lebens; dass im aufkommenden Kapitalismus alles zur Ware wurde, wie die Arbeit und der Boden. Genau das ist zentraler Bestandteil der politischen Ökologie.

Am Ende sind die beiden Autoren zwar nicht sonderlich optimistisch, die ökologische Klasse „können wir in einem dichten Nebel nur erahnen“ (S.85) und sie ist noch nicht wirkungsmächtig. Hoffnung machen nur die weltweiten Graswurzelbewegungen, der aktive Widerstand der Klima-Aktivistinnen rund um den Globus, die Indigenen, die früher von der Moderne als die ‚Wilden‘ betrachtet wurden, und doch in ihrer egalitären Beziehung zur Natur, die wahren Fortschrittlichen sind.

Latour und Schultz haben ein philosophisches Memorandum verfasst, was viel zum Nachdenken und Überdenken des Altherbrachten anregt. Das aber eben auch thesenhaft ist und an vielen Stellen vage bleibt. Die Hoffnung, die sie auf die ökologische Klasse projizieren, das schon laufende Arten-Massensterben und die Erderwärmung noch aufzuhalten und auf eine soziale Utopie, in der es keinen Gegensatz mehr zwischen Ökonomie und Ökologie gibt – diese Hoffnung ist angesichts des jüngsten Syntheseberichts des Weltklimarates IPCC nicht gerade größer geworden.


Bruno Latour und Nikolaj Schultz: „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein Memorandum | Wie gelingt politisches Handeln in Zeiten des Klimawandels?“ aktualisierte Ausgabe Mai 2023, Suhrkamp Verlag, Broschur, 93 Seiten, 14 Euro

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