Die Jahre
Die bedeutende französische Schriftstellerin Annie Ernaux hat bereits 2008 eine Art Memoiren verfasst, in Deutschland erschien „Die Jahre“ erst 2017.
Sie schildert in einer sehr eigenen, geradezu lakonischen Sprache ihr Leben seit frühester Kindheit. Ihre Schreibe bemüht sich dabei stets um Objektivität, das Buch liest sich wie ein Gegenentwurf zur subjektivistischen Darstellung vieler anderer Schriftsteller*innen, gerade wenn es um persönliche Dinge geht. Ernaux versucht so gut es geht, das Wort „ich“ zu vermeiden – es gelingt ihr weitgehend. Es ist der erfolgreiche Versuch, sich nicht selbst als Nabel der Welt zu sehen, sondern sie setzt so gut wie alle Geschehnisse seit ihrer Geburt im Jahr 1940 in einen gesellschaftlichen und damit politischen Kontext. Ihre Perspektive ist links, feministisch und damit äußerst sympathisch.
Aufgewachsen in kleinbürgerlichen/proletarischen Verhältnissen schafft sie es aufs Gymnasium und wird dort mit den Klassenverhältnissen konfrontiert, ist sie doch eine der ganz wenigen, die nicht dem Bürgertum oder der Bourgeoisie entstammt. Anschaulich schildert sie ihre Kindheit und Jugend. Obwohl in einem Ort in der Normandie keine 30km vom Meer aufgewachsen, sind Ausflüge an die Küste eine große Ausnahme. Paris, nur 140km entfernt, ist so weit weg wie der Mond. Annie Ernaux und ihre Freundinnen leiden unter der repressiven Moral der Gesellschaft, die alles sexuelle tabuisiert. Moderne US-amerikanische Musik bedeutet ein Stück Befreiung von der alltäglichen Langeweile und dem repressiven Druck von Familie, Gesellschaft und Kirche. Ein ständiger Vorwurf ihrer Eltern, „du willst zuviel vom Leben“. Eine Jugend und ein junges Erwachsenensein vor der allgemeinen Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln, heute undenkbar – damals gesellschaftliche Realität mit allen Folgen, wie u.a. illegale Abtreibung. Sie beschreibt die Zwänge, denen junge Frauen in den 50er und 60er Jahren in Frankreich ausgesetzt waren und auch, dass die Verhältnisse für Frauen in den folgenden Jahrzehnten zwar anders und nicht so repressiv, aber nicht unbedingt frei waren.
Ähnlich wie Didier Eribon entfremdet sie sich mit dem gesellschaftlichen Aufstieg von ihrer Herkunft und Familie. Sie wird Lehrerin, heiratet, wird zweifache Mutter und weiß sehr genau, dass das nicht das Leben ist, von dem sie geträumt hat. Die Ehe hält nicht lange:
„die Melancholie darüber, dass die eigenen Pläne – malen, Musik machen, schreiben – in weite Ferne rücken, glich man durch die Befriedigung aus, alles für das Projekt „Familie“ zu tun. Mit einer Schnelligkeit, die einen selbst verblüffte, bildete man geschlossene kleine Zellen. Man lud andere Pärchen und junge Eltern zum Essen ein und fand, Alleinstehende wären eine unreife Spezies, weil sie keine Ahnung hatten, was Ratenzahlungen sind. Dass sie frei waren, zu kommen und zu gehen, wann sie wollten, kränkte einen leicht.“
Der Krieg in Algerien, Mai 68, der zunehmende Konsum, aber auch die Entfremdung, der Fall der Mauer in Berlin, die US-Kriege im arabischen Raum, all das porträtiert sie mit klarem analytischen Blick und stellt ihre persönlichen Erlebnisse in den Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen.
Annie Ernaux war einer der ersten Schriftsteller*innen, die sich positiv auf die Bewegung der Gelb-Westen bezogen hat. Sie hat die Klasse ihrer Herkunft nicht verraten, auch wenn sie häufig in Versuchung geführt worden ist. In Frankreich gilt sie zurecht als äußerst bedeutende Schriftsteller*in.
Annie Ernaux: „Die Jahre“, erschienen bei Suhrkamp.
Inzwischen auch als Taschenbuch erhältlich (Juli 2019).
LinksLesen-Kollektiv, Februar 2019
Eintrag teilen