Christopher Wimmer: „Where have all the Rebels gone?“

Im sympathischen Unrast-Verlag erschien im Frühling dieses Jahres der obige Sammelband mit dem anspruchsvollen Untertitel „Perspektiven auf Klassenkampf und Gegenmacht“. Die 21 Beiträge sollen ein Gesprächsangebot über linke Handlungsperspektiven darstellen, in denen historische Erfahrungen aus dem letzten Jahrhundert mit verschiedenen aktuellen Konzepten vereint werden sollen.

Der Anspruch des letzteren Punkts ist es auch, den Blick dabei weit über die BRD hinaus zu werfen, nicht nur nach Südeuropa (Frankreich, Italien, Griechenland), sondern auch nach Kurdistan und Lateinamerika (hier konkret Argentinien und Chiapas). Explizit feministische Kämpfe werden hierbei auch – wenn auch nur in wenigen Bereichen (Argentinien und zum Teil Rojava) – berücksichtigt.

Durch die Aufnahme von zwei der historischen Beiträgen über die russische (1917) und spanische (1936) Revolution fast ganz am Anfang des Buches entsteht schnell der Eindruck, dass sich der Herausgeber klar auf Seiten der antiautoritären Fraktion positioniert hat, was den Sympathiefaktor nicht unwesentlich erhöht. Auch das Interview mit einem DDR-Linksoppositionellen nimmt klar Partei gegen autoritäre und dogmatische Revolutions- und Staatsvorstellungen ein, was nicht wenige leninistisch orientierte Genoss*innen verärgert zurücklassen dürfte. Gleiches gilt für den Beitrag der Aufstandsfreund*innen des Unsichtbaren Komitees aus Frankreich, welche stark anarchistisch orientiert sind und den Beitrag der EZLN. Die Lenin-Fans unter uns werden sich nach der Gesamtlektüre des Buches aber doch wieder entspannter zurücklehnen dürfen, da einige Beiträge (speziell die über Rojava und den argentinischen Feminismus) sich leider positiv auf leninistische Organisations- und Revolutionsmodelle beziehen.

Und hier wird es ärgerlich, dass der Antagonismus zwischen diesen beiden Polen vom Herausgeber entweder nicht erkannt oder als irrelevant erachtet wird. Es spräche ja nichts gegen eine offene Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Positionen, doch das ist nicht das erklärte Konzept dieses Buches. So hat man das Gefühl, hier wird eine linke Einheitssoße gemischt, die der Sache nicht gerecht wird und mindestens erklärungsbedürftig ist. Denn so sind die Beiträge in den erwähnten Teilen derart widersprüchlich, dass mensch sich fragt, wo da noch Gemeinsamkeiten liegen könnten.

Im Beitrag von Detlef Hartmann über Russland 1917 wird der Oktober als „Staatsstreich“ und „Gegenrevolution“ bezeichnet und die Zeit danach (wohlgemerkt noch unter Lenin und längst noch nicht unter Stalin) als „Krieg gegen die Bäuer*innen, die Arbeiter*innen und die eigene Bevölkerung“. Hartmann geht dabei so weit, den Hungertod von Millionen Bäuer*innen unter Verwendung von Quellen, Zitaten, Zahlen und Bezugnahmen auf historische Forschungen als Genozid zu bewerten. Sein Beitrag ist eine Zusammenfassung der Kapitel über Russland/UdSSR in seinem Buch „Krisen – Kämpfe – Kriege“ Band 2 in Assoziation A erschienen – sehr lesenswert.

Auch weist Hartmann m.E. überzeugend nach, dass das ökonomische Modell in der UdSSR mitnichten „jenseits des Kapitalismus gebaut“ war, wie es der Herausgeber in einem Interview an anderer Stelle mit der „Direkten Aktion“ behauptet. Die Kapitalstrategen Taylor und Ford waren große Vorbilder für den ökonomischen Weg der UdSSR unter Lenin und nach deren arbeitsteiligen und kapitalistisch-effizienten Methoden wurden die Fabriken dort organisiert – gegen den Widerstand der Arbeiter*innen. Also insgesamt eine vernichtende Abrechnung mit dem sowjetischen Modell an sich und somit eine große Differenz zu denen, die erst unter Stalin eine Pervertierung der Revolution meinten erkennen zu können.

Somit fällt es einigermaßen schwer nachzuvollziehen, warum dann spätere Beiträge positiven Bezug auf den Leninismus nehmen (s.o.). Gehört somit der Leninismus mit seinem autoritären Modell noch zum Spektrum des „Gesprächsangebots“ an die Linke? Hier bezieht der Herausgeber keine klare Position, bzw. relativiert ohne Not die scheinbar klare anfängliche Positionierung, die mensch aufgrund der Auswahl der drei erwähnten anti-autoritären Beiträge annehmen kann.

Auch die Beschreibung der politischen Linksradikalen in den letzten 40 Jahre in der BRD in diesem Sammelband erscheint ziemlich eindimensional. Dies Kapitel ist vom Herausgeber selbst verfasst und er greift hinsichtlich der 1980er und 90er Jahre erkennbar nur auf zwei Quellen zurück (Bernd Langer (ehemals Antifa (M) und ein Papier namens „2014-das Jahr wo wir nirgendwo waren“). Beide Verfasser gehörten bestimmten Fraktionen autonomer Politik an (nämlich Antifa (M) bzw. mindestens den Autokoms (Autonome Kommunisten) nahestehend) und lassen ihre eigenen politischen Interessen und Ansichten in ihren Einschätzungen überdeutlich durchscheinen. Das ist ihnen nicht vorzuwerfen – wohl aber ist der Autor dafür zu kritisieren, dass er sich für diesen Artikel nicht weiterer Quellen bedient hat, wie bspw. dem gerade in erweiterter Neuauflage ebenfalls bei Assoziation A erschienenen Buch „Autonome in Bewegung“.

Laut Christopher Wimmers Überschrift dieses Artikels befasst er sich in diesem mit „antifaschistischer Politik“, es geht aber vor allem um Autonome und andere Linksradikale.

Auch geraten einige scheinbare Wahrheiten in diesen Beitrag, die aber in erster Linie geschichtsklitternd sind. Dies geht bereits da los, wo das „2014“ Papier als „Reflexion der antifaschistischen Bewegung“ verstanden wird. Den Autor*innen des Papiers geht es um viel mehr als Antifaschismus, nämlich ums Große und Ganze, Antifa kommt nur am Rande vor. Auf Seite 102 plagiiert der Autor klassisch, indem fast ein ganzer Absatz aus dem „2014“-Papier teilweise wörtlich übernommen wird, ohne dies – wie sonst – in der Fußnote anzugeben – na gut, ist ja keine Dissertation, auch wenn der Autor in seinem Vorwort sein Bedauern darüber ausdrückt, dass „die hier versammelten Texte …. nicht immer akademischen Standards“ genügen. Schwamm drüber – wichtiger ist, dass in dem erwähnten Beitrag die historischen Begebenheiten munter durcheinander purzeln und teilweise zeitlich so angeordnet werden, damit die vorgefertigten Thesen auch ja passen. So wird – um nur zwei Beispiele zu nennen – die Gründung der Antifa (M) auf die Zeit des Mauerfalls vorverlegt und schwere politische Differenzen innerhalb der Kreuzberger Autonomen aus dem Jahr 1987 auf die Zeit nach dem Mauerfall verlegt (obwohl das betreffende Papier den Zeitraum korrekt benennt) – von einigermaßen steilen politischen Einschätzungen ganz zu schweigen, die zwar häufig, aber längst nicht immer auf den oben genannten lediglich zwei noch dazu politisch tendenziösen Quellen beruhen. So soll (Seite 100) „ein Teil der linken Szene [auf verstärkte staatliche Repression] …mit dem Versuch der Anpassung“ reagiert haben. Welcher Teil? Wo? Wann? Es bleibt völlig nebulös, was hier gemeint sein soll. Als Reaktion auf die versehentliche Tötung des Rechtsextremisten Kaindl soll einem Teil der Szene „eine öffentliche Distanzierung wichtiger“ gewesen sein, als sich an Solidaritätsaktionen für die Gefangenen zu beteiligen (Seite 102). Es gab von vielen eine Kritik an der Tötung eines politischen Gegners und dem evtl. unüberlegten Einsetzen von Messern als potentiell tödlichem Werkzeug, aber keine Distanzierung von den Akteur*innen. Es mag auch sein, dass die Verfasser*innen des „2014“ Papiers anlässlich des Autonomie-Kongresses zu Ostern 1995 „rat- und perspektivlos“ (Seite 102) waren – auf die 2000 Teilnehmer*innen des Kongresses trafen beide Adjektive keinesfalls zu. Weitere Beispiele könnten aufgezählt werden, worauf hier aber verzichtet wird

Die Zusammenstellung der einzelnen Beiträge erscheint eklektizistisch, ein „schwarz-roter Faden“ ist leider längst nicht immer erkennbar. Am ehesten scheint noch eine starke Sympathie des Herausgebers für insurrektionalistische Tendenzen erkennbar zu sein, aber dieser Eindruck muss ebenfalls nicht stimmen.

Was aber auch heißt, dass einfach nur einzelne Beiträge gelesen und für gut befunden werden können, wie z.B. von Roman Danyluk über die Bewegung 2. Juni oder die Artikel über Griechenland und die Fabrikbesetzungen in Argentinien. Auch für diejenigen, die die Verhältnisse in Rojava als irgendwie basisdemokratisch oder gar libertär einschätzen, ist der Artikel von Nikolaus Brauns lesenswert, der unter Verwendung eines Zitats aus dem Lower Class Magazine die Revolution in Rojava „als praktischen Beweis für die Richtigkeit der Leninschen Avantgardetheorie“ bezeichnet.

Der große und gute Anspruch des Buches wird leider nicht eingelöst – aber auch Versuche sind nicht immer schlecht.

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