Ronen Steinke: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich

Ronen Steinke hat sich mit seinem neuen Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz“ die Strafrechtsgerichtsbarkeit in diesem Land vorgenommen. Der Autor ist selbst Jurist – sogar promovierter – und Leser*innen der Süddeutschen Zeitung durch seine Artikel bekannt, die er seit mehr als zehn Jahren für die SZ verfasst.


Steinke hat bereits einige Bücher geschrieben, seine Biographie über Fritz Bauer „Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht“ bildete auch eine Grundlage des  Films „Der Staat gegen Fritz Bauer“ über den mutigen jüdischen Staatsanwalt, der Anfang der 1960er Jahre gegen einige Widrigkeiten hochrangige NS-Völkermörder anklagte („Auschwitz-Prozess“). Das Buch „Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt“ erschien 2020 und beschreibt mehr als eintausend – teils tödliche – Gewalttaten gegen Juden und Jüdinnen in der BRD seit dem Zweiten Weltkrieg.

Mit seinem neuen Buch hat er sich die Strafrechtsgerichtsbarkeit in diesem Land vorgenommen. Hierzu hat er mit einer Reihe von Fachleuten Gespräche geführt, welche auch namentlich aufgeführt werden, was für eine gewisse Transparenz sorgt. Steinke beschreibt im wesentlichen, wie sich an Strafgerichten in diesem Land eine Zwei-Klassen-Rechtsprechung etablieren konnte, wie unterschiedlich über Reiche und Arme geurteilt wird und er versucht zu ergründen, wie es dazu kommen konnte. Er beschreibt darin den gesamten Kanon der Kritik, den linke Strafverteidiger*innen seit Jahren und Jahrzehnten üben.

Der Untertitel „Die neue Klassenjustiz“ verspricht eine klare politische Positionierung, die auch mindestens in weiten Teilen eingehalten wird. Die einzelnen Kapitel beschreiben u.a., wie viel schwerer es z.B. Angeklagte ohne Verteidiger*in haben, einen Freispruch zu erreichen oder auch nur adäquat mit strafmildernden Argumenten richterliches Gehör zu finden. Richter*innen mögen es bequem. Wenn sie schon Pflichtverteidiger*innen beiordnen müssen, weil es das Gesetz so vorsieht – in Auslegungsfällen wird gerne darauf verzichtet – , dann werden gerne welche genommen, die der vermeintlichen Wahrheitsfindung nicht allzu sehr im Weg stehen. Sprich, keine Zeit kosten durch umfangreiche Zeugenbefragung oder dem Stellen von Beweisanträgen. Steinke beschreibt anhand diverser immer wiederkehrender Bereiche, wie sehr Reiche und Bessergestellte anders – nämlich fairer – vor Strafgerichten behandelt werden als Arme und Nichtsogebildete.

Auch das Strafbefehlsverfahren – hier werden Urteile per Post ohne vorherige Hauptverhandlung verschickt – wird kritisch beleuchtet. Mag es für die eine oder den anderen vorteilhaft sein, gar nicht erst vor Gericht auftauchen zu müssen, führt es für andere zu krassen Ungerechtigkeiten. Demente und psychisch Kranke können ihre strafprozessualen Rechte, wie etwa einen Einspruch gegen einen solchen Strafbefehl, aus nachvollziehbaren Gründen häufig gar nicht ausüben. Werden sie per Post verurteilt und können bspw. ihre Geldstrafe nicht bezahlen, wird die Ersatzfreiheitsstrafe dennoch vollstreckt – sie müssen dann in den Knast. Dort fällt dann ihre potentielle Schuldunfähigkeit zum ersten Mal auf – zu spät.

Viele vom Autor beschriebene Tendenzen werden durch empirische Zahlen untermauert, was dem Buch gut tut. Am Schluss unterbreitet Steinke 13 konkrete Vorschläge, „wie es besser gehen könnte“. Viele davon entsprechen den Forderungen emanzipatorischer Anwaltsvereinigungen. Er spricht sich allerdings auch für weniger Datenschutz aus, indem er für die Ermittlung der wahren Einkommensverhältnisse von Angeklagten dafür plädiert, dass die Strafjustiz Zugriff auf die Daten der Finanzämter bekommt. Hier geht der Autor klar zu weit. Er entlastet auch die Strafrichter*innen zu sehr. So macht er z.B. mangelnde Empathie gegenüber prekären Angeklagten und Ungerechtigkeiten beim Vergleich arme/reiche Angeklagte, sowie die Arbeitsüberlastung und zu geringe personelle Ausstattung der Gerichte zu sehr verantwortlich. Wenn schon der Begriff Klassenjustiz Verwendung findet, dann sollte auch analysiert werden, wie die Herkunft, der Bildungsgrad, die Lebensrealität der allermeisten Richter*innen aussieht und wie groß die Differenz in diesen wichtigen Bereichen zu den meisten Angeklagten ist. Zwar wird formal die gleiche Sprache gesprochen, aber wie groß bzw. klein das reale gegenseitige Verstehen ist, entscheidet mit darüber, wie ein Strafprozess läuft und endet. Der größte Teil der Richter*innenschaft wird den Angeklagten, über die sie richten, kaum mal im Alltag begegnen. Man lebt in verschiedenen Wohnvierteln, kauft in unterschiedlichen Läden ein, hat andere Freizeitgestaltungen, kulturelle Prägungen und und und. Diese gar nicht so „feinen Unterschiede“ (Pierre Bourdieu) fehlen leider in dem sonst gut lesbaren und verständlich geschriebenen Buch. Dennoch empfehlenswert für alle, die etwas genauer wissen wollen, wie es mit der Strafjustiz in diesem Land aussieht.

Ronen Steinke: „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz“ Januar 2022, Berlin Verlag, 272 Seiten, Hardcover, 20,00 €

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