Wir freuen uns, Euch hier eine sehr ausführliche Rezension von Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, geschrieben von der Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff präsentieren zu können: ein Freund hat das Buch gelesen und fasst zusammen: „Zuboff hält nicht viel von individueller Abwehr wie Veränderung des Äußeren mittels Gesichtsbemalung oder das Tragen von Alustreifen um die Handyortung zu vermeiden. Das würde nur die Symptome bekämpfen, nicht die Ursache“ – wir wünschen viel Spaß beim Lesen und Diskutieren des Buches und der Rezension!

Persönliche Vorbemerkung:

Das Buch ist umfangreich: 600 Seiten plus 100 Seiten Anmerkungen. Es ist für mich eine ziemlich fremde Materie: ich habe mich bisher nur sehr wenig mit Datenverarbeitung, Computerinnenleben und der -software beschäftigt und habe nicht viel Ahnung, wie Algorithmen produziert werden und was mensch heutzutage mit denen alles anstellen kann. Vieles ist für mich Neuland in der Welt von Google und Facebook und sehr vieles verstehe ich nicht so ganz. Aber das was ich verstanden habe, zieht mich ganz schön runter, ob der Macht dieser Konzerne über uns User und den Prozess der schleichenden „Enteignung des Selbst“, wie Zuboff es bezeichnet. Wenn die Macht dieser Konzerne nicht eingeschränkt, besser noch zerschlagen wird, sieht es sehr düster aus um die Zukunft unserer Autonomie und unseres freien (Gestaltungs-) Willens.
Dennoch lohnt sich die Lektüre, das Werk ist geistreich geschrieben, mit einer sehr umfangreichen empirischen Fundierung der Aussagen. Das Buch hat allerdings viele Wiederholungen, besonders an den Anfängen neuer Kapitel hätte mensch gut um 100 Seiten kürzen können, ohne das es an Substanz verloren hätte.

Zur Person:
Shoshana Zuboff hat als Professorin an der Harvard-Business School gelehrt, ist Ökonomin. Sie scheint eine linke Keynsianerin zu sein (die neoliberalen um Hayek etc. werden des öfteren demontiert), bezieht sich stark auf einige europäische DenkerInnen (u.a. Polanyi, Arendt, M. Weber, auch Marx kommt manchmal vor) und pflegte sehr engen Kontakt mit F. Schirrmacher, dem verstorbenen FAZ-Herausgeber.

Ich teile das Buch in vier Ebenen auf:

1. Ökonomische Stellung, Aufstieg u. Macht von Google, Facebook und Microsoft

Facebook hatte letztes Jahr bei einem Umsatz von 40 Mrd. $ eine Umsatzrendite von knapp 47%, hat also 16 Mrd. Gewinn gemacht. Google-Alphabet hat 110 Mrd. Umsatz, aber nur 12 Mrd. Gewinn. Microsoft, als der Kleinste von den Dreien in Sachen Überwachungskapitalismus (ÜK), hat einen Umsatz von 90 Mrd. und immerhin 21 Mrd. Gewinn gemacht.
Ein sehr wichtiges Indiz, wie erfolgreich die beiden Großen sind: Facebook und Google zusammen vereinigen mehr als 80% der gesamten Online-Werbung auf sich, und das sind jetzt schon 20% des Weltwerbeetats, Tendenz stark steigend.
Beides sind sehr junge Konzerne, Google besteht seit 1998, Facebook ist noch jünger und ging erst 2012 an die Börse. In beiden Konzernen sind die Wachstumsraten außerordentlich. Google ist seit 2004 an der Börse und ist nach Apple, gemessen in Börsen-Aktienwerten, 2017 der zweitgrößte Konzern der Welt. Dahinter folgen dichtauf Amazon und Microsoft (ms) sowie mit Abstand Facebook.
Nur zur Erinnerung: bis vor ca. 10 Jahren waren das über Jahre die führenden Ölkonzerne, heute kommt Exxon nur auf Platz 9 des Ranking. Manchmal bilden die Börsennotierungen schon ganz gut die Machtverschiebungen in der globalen Ökonomie ab.

2. Techniken, Instrumente der Überwachung, Enteignung, Verhaltensmodifikation

Für Zuboff ist die zentrale Kategorie der Datengenerierung und Datenmacht der Verhaltensüberschuss, aus denen mittels riesiger Rechenzentren Verhaltens-Vorhersageprodukte in den Konzernen entwickelt werden, 22.
Der Verhaltensüberschuss ist der Daten-Rohstoff; bleibt dabei jedoch das größte Geheimnis von Google und Facebook und bildet den zentralen Bestandteil der Schattendatenbank oder des Schattentextes. Der erste Text, den die KundInnen, User zu sehen, zu lesen bekommen, ist datentechnisch nur minimaler Krümelrest. Damit wird eine ungeheure Asymetrie des Wissens produziert und letztlich ist diese eine der entscheidenden Säulen der Macht von google & co. Wie das genau abläuft, siehe weiter unten (bei Rendition).
Eines der Vorbilder für Google war Apple, das mit seinem i-phone anfang der Nullerjahre und dem zuerst kostenlosen Runterladen von Musik inklusive der individuellen Musikpräferenzen und entsprechender Werbung bis dahin im Börsenkapitalismus nicht gekannte Umsatzrenditen erzielte und voll und ganz dem Zeitgeist der Individualisierung (von Werbung) im Neoliberalismus entspricht.
Mittels der ermittelten Klickraten kann Google die Werbung gezielt und profitträchtig plazieren. Die Entdeckung und Inwertsetzung des Verhaltensüberschusses hat sich Google 2011 patentieren lassen. Es ist der erste Extraktionsimperativ des ÜK wie Zuboff schreibt, denn er verlangt einen beständigen neuen Zufluss an Daten, damit aus den statistischen Berechnungen mittels der Algorithmen genaue Vorhersagen generiert werden können, 110. Dabei sind die User und ihre Daten nicht KundInnen sondern „Mittel zu anderen Leuten zielen“, 111. Oder anders: das eigentliche Lukrative für Google ist der Verkauf von Vorhersagen über das Verhalten der Google-user, 116. Mittlerweile hat google Nachahmer gefunden, vor allen durch Facebook, die mittels ihres Social-Media-Projekts auf „eine Goldmine“ gestoßen sind (weil besonders jüngere Menschen besonders freigiebig hinsichtlich ihrer Daten sind).
Das Geschäftsmodell ist letztendlich eine Akkumulation durch Enteignung, die Kommodifizierung des Verhaltens und der menschlichen Erfahrung. So z. B. ist Nestlab eine Tochter von Google und regelt u.a. mittels Thermostaten die Wohnungstemperatur, den Kühlschrank etc. Darüber erhält Google eine ungeheure Datenflut, was, wann wir in unserer Privatsphäre machen. So hat Nestlab datentechnisch Zugriff auf alles was wir elektronisch in der Wohnung machen. Wenn wir diesem Übergriff auf unsere Privatsphäre nicht zustimmen, ist die Funktionsweise von Nestlab stark eingeschränkt. Der Kauf-Vertrag zwischen Google und den Usern ist also völlig ungleich: wir müssen den tiefen Eingriff in unsere Privatsphäre akzeptieren und wissen auch nicht was Google damit macht, sonst können wir die gekaufte Ware nicht nutzen. Im Gegensatz zum Kapitalismus der 2. Moderne (z. B. in der Ära des Fordismus gab es selbst für Lohnarbeiterinnen gewisse vertraglich gesicherte Rechte) ist das ein „Unvertrag“ wie Zuboff es nennt, wo die Verwertungs-rechte einseitig bei den Konzernen liegen und für den Käufer im Dunklen bleiben.

Eine der wesentlichen Techniken der Datenverwertung von Google dabei ist die Rendition (kommt aus dem französischen und heißt herausgeben, übergeben). „Rendition bezeichnet die konkreten operativen Praktiken der Enteignung, mit denen das Überwachungskapital menschliche Erfahrungen als Rohstoff für die Verdatung und alle darauf abzielenden Operationen beansprucht“, 270. Veranschaulicht sei das am Beispiel des neuen selbstständigen Staubsaugers „roombar“. Der Hersteller iRobot rühmt sich, die durch den Staubsauger gewonnen Daten über die zu staubsaugenden Wohnungen und Innenarchitektur an andere wie Google oder Amazon verkaufen zu können. Prompt schoss der Börsenwert von iRobot durch die Decke. Zwar können die Nutzerinnen von roombar die Datenweitergabe verweigern, nehmen damit aber einen erheblich eingeschränkten Nutzen (z.b. vom Handy von unterwegs das Teil zu starten) in Kauf. Im Ergebnis ist die Effektivität, die Einsatzbreite und die Sicherheit des gekauften Produktes für das „Smart-home“ der Faustpfand dafür, dass der User sich „der Rendition seiner Daten zur Nutzung von und für die Interessen anderer unterwirft“, 274

Der Prozeß der Rendition ist nahezu grenzenlos und hat mittlerweile den menschlichen Körper im Gesundheitssektor voll erfasst (Kontrolle der Fitness, Essgewohnheiten, rauchen etc.). Auch hieraus lassen sich Vorhersageimperative ableiten, die wiederum nicht nur die Krankenversicherungen interessieren, sondern die Daten werden auch an andere Branchen weiter verkauft.
Wie Google strategisch vorgeht, sei an dem Beispiel der Einführung des Android für Smartphones veranschaulicht, 160. Google vergab zahlreich kostenlose Lizenzen an andere Anbieter, um damit andere Unternehmen auf Google-search, -maps etc. zu ziehen. Es ging um die exponentielle Erweiterung des Daten-mining. Der Google-Finanzchef dazu 2009 ganz offen: „Wenn wir über eine Kostensenkung durch Opensource Software für die Verbreitung dieser Mobiltelefone sorgen, überlegen Sie mal, wie viel Suchen uns das bringt“. Man versuchte nicht mit Android Profit zu machen, jeder Anbieter konnte neue Apps gerieren und lenkte die User damit auf Google. Hier taucht das zentrale Moment des Extraktionsimperativ wieder glasklar auf: es geht um die endlose Spirale des „immer mehr“, des Daten-rohstoffs. Das treibt solche Blüten, z. B. wenn du dich in dein Auto setzt und zu einem Shop fahren willst, um einen Hammer zu kaufen, dann wirst du mittels google-street-view zu dem von google beworbenen Store per Navi geleitet. Wenn du allerdings deine Versicherungspolice nicht bezahlt hast, dann springt dein Auto erst gar nicht an!

Die Autoversicherungsbranche ist das dabei mittels lernender Algorithmen und entsprechender Kontrolle über das Verhalten der Versicherungsnehmer (nicht nur) im Straßenverkehr (der Bordcomputer zeichnet heute alles auf, was du am Steuer wie machst) nebst seiner Zusicherungen (No Alkohol, immer ausgeschlafen am Steuer) und entsprechender Maschinenüberwachung das Schadensrisiko für die Versicherung beständig zu verkleinern.
Darüber hinaus eröffnen sich für die Versicherungskonzerne ganz neue Geschäftsfelder. Sie können die Daten ihrer Klientinnen auf „Verhaltensterminkontraktmärkten“, so nennt das Zuboff, an andere auch branchfremde Konzerne verhöckern. Darin sind Google und Facebook schon die Weltmeister.
Dazu einer der Chefvordenker von Google, Hal Varian: „Da die Transaktionen jetzt rechnergestützt ablaufen, lässt sich heute Verhalten beobachten, das zuvor nicht beobachtbar war, und wir können darauf Verträge abschliessen. Das ermöglicht Transaktionen, die früher schlicht nicht machbar waren“, 253

Die Gier der im Web operierenden Unternehmen nach Daten ist schier endlos und hat längst die auch in der Reality operierenden Unternehmen erfasst, z. B. bei Produktinnovationen und der Erschließung neuer Kundengruppen. Beispiel dafür ist ‚Alexa‘ von Amazon, die digitale Lautsprecher in Wohnungen einsetzt und mittels Spracherkennung Daten generiert, die dann alle möglichen Geräte im Haushalt steuern, aber auch die Wohnung überwacht, so bei fremden Stimmen vor Einbrechern warnt, und durch die akustische Überwachung das Kaufverhalten mittels ‚Voice and Sniffer-Algorithem‘ steuert, 308
Rendition in die Tiefe, des Selbst: 2016 stellte der Chef von Microsoft ‚Cortana‘ als neue „persönliche digitale Assistentin“ des Unternehmens vor: „ Cortana kann Textinput übernehmen. Sie kann Sprachinput übernehmen. Sie kennt Sie bis ins Innerste. Sie kennt ihren Kontakt, ihre Familie, ihre Arbeit. Sie kennt die Welt. Sie ist grenzenlos. Mit anderen Worten, sie ist ihnen auf den Leib geschneidert. Wohin Sie auch immer gehen, sie geht mit. Sie ist auf jedem Smartphone verfügbar – ob iOS, Android oder Windows spielt keine Rolle. Sie ist über alle Applikationen hinweg verfügbar, die Sie je im Leben einsetzen werden.“ 293.
Das Ziel ist also unser Handeln zu steuern, mittels Algorithmen generierter Vorhersagen über unser Verhalten. Das Ziel sind nicht neue Normen oder Verbote, sondern Verhalten zu produzieren, die für die Werbeindustrie allerhöchst lukrativ sind, weil sie garantierte Ergebnisse durch ihre personalisierte Werbung erzielen können: „Die Aussicht auf garantierte Ergebnisse bringt uns die Kraft des Vorhersageimperativs erst so recht zu Bewusstsein; er zwingt die Überwachungskapitalisten dazu, die Zukunft zu gestalten, um sie vorhersagen zu können“, 235

Diese Horrorvision bezeichnet Zuboff zurecht als “maschinellen Einmarsch in die menschlichen Tiefen unter dem Banner der Personalisierung“, 294. Dabei trabt Micrsoft nur der Entwicklung von Google und Facebook hinterher. Facebook hat 2 Milliarden (!) Nutzerinnen. Die User liefern dem Konzern freiwillig ein Daten-profil über alle möglichen Persönlichkeitsmerkmale, woraus dann Facebook messbares Verhalten errechnet und mithilfe eines 5-Faktormodells aussagekräftige Vorhersageprodukte entwickelt, 311. Das ermöglicht dann eine personalisierte Werbung mit sehr hoher, „garantierte“ Erfolgsquote.

Da Facebook auch auf dem Sektor der Gesichtserkennung sehr weit vorn ist, schafft es der Konzern über Gesichtsausdrücke wie Mimik, Stirnrunzeln, Trauer, Freude auf die Emotion zu schliessen, indem die emotionalen Reaktionen kartiert werden. 2011 hat sich Facebook diese Sachen patentieren lassen. Mit diesem Mikrochip kann der Konzern mit einer Genauigkeit von 98% zwölf Emotionen klassifizieren. Das lässt sich trefflich dann verwerten, wenn User entsprechende Reaktionen zeigen z. B. auf ein gepostes Bild, dann schlägt binnen Sekunden eine gezielte Werbung zu. Und es ermöglicht das Verhalten der User zu manipulieren und zu modifizieren, indem bestimmte Eigenschaften, Neigungen der User durch Fotos, Likes oder (Fake-) Bots provoziert werden. Das war im Kern die Methode von Cambrige Analytica (CA) im letzten US-Wahlkampf. Die Daten dafür kaufte CA von Facebook.

3. Gesellschaftspolitische Voraussetzungen und Implikationen

Zuckerberg 2010: es gibt keine Privatsphäre in Zukunft mehr, damit gilt auch sowas wie der Datenschutz für den Konzern nicht, 67. Diese Enteignung ist die dritte in der Geschichte der Kommodifizierung im Kapitalismus (nach Polanyi). Die erste war die die Herausbildung der Arbeitskraft als Ware, die zweite, parallel dazu die Kommodifizierung der Natur in Form von Grund- u. Landbesitz und die dritte ist die digitale Enteignung menschlicher Erfahrung, des Selbst.
Das Beispiellose in dieser neuen Logik der Akkumulation durch Enteignung können wir deshalb nicht erkennen, weil wir, wie Zuboff schreibt, noch der 2. Moderne verhaftet sind und wie die Taino in der Karibik, die damals die Spanier mit Blumen begrüßten, deren Hinterlist und Grausamkeit nicht erahnen konnten. Zuboff schreibt über die Strategie der Überwachungskapitalisten: “Sie camuflierten ihre Absichten mit unlesbaren Maschinenoperationen, gingen in rasendem Tempo vor, hielten die Hand über ihre Praktiken, bemächtigten sich ganz bewusst kultureller Zeichen und Symbole, die wir mit der Thematik der zweiten Moderne verbinden – Befähigung, Teilhabe, Stimme, Individualisierung und Zusammenarbeit – und appellierten unverblümt an die Frustationen der Individuen der zweiten Moderne, wie sie aus der Kollosion zwischen individuellen Sehnsüchten und institutioneller Gleichgültigkeit entstehen“, 226

Zuboff vergleicht die Macht des ÜK nicht einer neuen Form des Totalitarismus, sondern führt einen neuen Begriff ein, den Instrumentarismus. Totalitarismus habe durch Gewalt operiert, „die instrumentäre Macht durch Mittel zur Verhaltensmodifikation. (…) War der Totalitarismus ein politisches Projekt, das sich zur Überwältigung der Gesellschaft mit der Wirtschaft zusammentat, so ist der Instrumentarismus ein Marktprojekt, das im Verein mit dem Digitalen seine ganz eigne Art von sozialer Herrschaft geschaffen hat.“ 421

In der instrumentären Macht verquickt sich der Skinner’sche Behaviorismus des Big Other mit seiner scheinbar objektiven und berechenbaren Beobachtungstechnik mit der formalen, sozialen Gleichgültigkeit der neoliberalen Weltsicht. Mithilfe der Grundideen skinnerscher Prägung gelingt es, Verhalten zu beobachten, zu messen, zu verändern und eben auch zu digitalisieren. Im Unterschied zu den skinnerschen Versuchstieren, die eine Belohnung bekamen, wenn sie durch eine Pforte gingen, bekommt der heutige Probant im Internetzeitalter eine entsprechende Zahl von Likes.

Und es geht noch weiter: Sehr viele User von Facebook geben an, trotz der Kommunikation im Netz eher einsam zu sein – und das ist der Türöffner für die Maschine. Die instrumentäre Macht ersetzt die fehlenden sozialen Beziehungen durch die Maschine, die virtuelle Beziehungen für den User aufbaut. „An die Stelle menschlichen Vertrauens rückt das Vertrauen in die Maschine“, 447.

Damit wird das Verhalten der User hochanfällig für eine Steuerung von außen. Und da die Maschinen mittlerweile lernen, u. a. aufgrund des immer umfangreicheren statistischen Rohmaterials, intervenieren sie sofort, wenn es zu große Abweichung von der errechneten Norm im Verhalten der User kommt. Mirosoft hat 2013 eine Entwicklung vorgestellt, in der das patentierte Gerät die Überwachung der User mit dem Ziel „präventiv jede Abweichung von normalem und akzeptablem Verhalten“ erkennt, 475. Das erwünschte Ergebnis ist, in Echtzeitintervention das Sozialverhalten zu steuern (zum Beispiel am Arbeitsplatz, wenn die Arbeiterin sich nicht entsprechend den vorausberechneten vorgaben verhält und ein falsches Werkzeug verwendet, stoppt die Maschine). Aber es geht noch weiter: beim Autonomen-Fahren entscheiden die Maschinen aufgrund der gesammelten Daten des Fahrverhaltens anderer Verkehrsteilnehmer in den Visionen von google&co wesentlich besser als der individuelle Mensch am Steuer. Es ist die maschinelle Schwarmintelligenz, die den Zufall und die Ungewissheit eliminiert.

„Ich lasse jetzt mal die Herrschaftsansprüche und Visionen, von Schmidt, Page oder Zuckerberg über die bevorstehende Fähigkeit von google und facebook „eine neue Gesellschaft“aufzubauen, weg“ (464 ff)

4. Politische Folgerungen: die vermeintliche Ohnmacht des Staates und eine Kampfansage

Der ökonomische und politische Aufstieg von Google und facebook wurde begünstigt

  • a) durch das Tempo der Innovationen und Schaffung immer neuer Standards und Geschäftsfelder (Android, Instagram, Youtube, Nestlab etc.), die beide Konzerne im Laufe nur weniger Jahre auf den Märkten implementierten
  • b) dadurch hinkten staatliche (Datenschutz-) Aufsichtsorgane hilflos hinterher
  • c) es ist seit dem 9/11 2001 für die beiden Großen eine Ära der Gesetzlosigkeit und der zunächst stillen, dann offenen Kooperation mit staatlichen Überwachungsorganen wie dem CIA und der NSA angebrochen.

Google und Facebook haben durch ihre Schattendatenbanken eine milliardenfache Personenzahl mit ihren Gewohnheiten, Neigungen, politischen Einstellungen etc. gespeichert, nach denen sich die Geheimdienste die Zunge lecken und u.a. deswegen war die staatliche (Datenschutz-) Aufsicht auch so lax.

Im Zuge der neoliberalen Ideologie wird die Einhaltung des Datenschutzes der Selbstregulierung durch die Konzerne überlassen. Jede Vorschrift und Auflage wird im sinne einer „cyberlibertären Ideologie“ als Einschränkung der Redefreiheit (beisp. beim Schutz der Privatsphäre auf Facebook vor Hate-Bots) mit Hilfe einer Armada hochbezahlter Konzernanwälte bekämpft. Die Folgen sind die nahezu Unangreifbarkeit und Nicht-Haftung für den Inhalt der Websits von Google, Facebook oder Microsoft. Alles schreit sofort Zensur. In den USA gibt es dafür extra ein Gesetz, die Section 230 des ‚Communications Decency Act‘, was die Betreiber von Websits vor der Strafverfolgung schützt, 136.

Verizon, der nach dem Börsenwert größte Mobilfunkkonzern der Welt, hat jedem User eine Präcisions-ID verpasst, die trotz fehlender Zustimmung des Nutzers, die Profile und die Gepflogenheiten beim Browsing den Werbetreibenden übermittelt, 196.
Der Schutz der Privatsphäre wird zum Luxusgut, beisp. bei Mietern, die eine neue Wohnung anmieten wollen oder bei der Online-Kreditnachfrage (die Schufaabfrage ist dagegen gar nichts).

Zuboff fasst auf 592 noch mal die negativen Folgen des ÜK zusammen: „die unbefugte Enteignung menschlicher Erfahrung, die Übernahme der Wissensteilung der Gesellschaft, die strukturelle Unabhängigkeit vom Menschen an sich, das Aufoktroyieren des kollektivistischen Schwarms, den aufstieg der instrumentären Macht und seiner radikalen Indifferenz, auf die seine Extraktionslogik sich stützt. Aufbau, Besitz und Betrieb der Mittel zur Verhaltensmodifikation, die ich als Big Other bezeichnet habe, die Aufhebung des natürlichen Rechts auf die Zukunft und des natürlichen Rechts auf Freistatt, die Unterminierung des selbstbestimmten Individuums als Dreh- und Angelpunkt demokratischen Lebens, (…).“

Die Perfektionierung der Verhaltensmodifikation wurde zunächst für die gezielte Werbung von den großen Drei entwickelt. Seit ein paar Jahren können wir den schleichenden Übergang zur Überwachung des Sozialverhaltens in der gesellschaftlichen Realität und auch die Kontrolle politischer Aktivitäten beobachten. Ich habe schon auf die ungeahnten Möglichkeiten der Fernüberwachung durch die Gesichtserkennung hingewiesen. Eine andere Technik ist Geodata.

„Ein Start-up namens Geofeedia spezialisiert sich auf das Tracking von Aktivisten und Demonstranten wie Greenpeace und Gewerkschaftern; darüber hinaus errechnet man ihren Bedrohungsfaktor aus Daten der sozialen Medien. Justizvollzugsbehörden gehören zu den prominentesten Kunden von Geofeedia“, 451.

Natürlich reden im Augenblick alle über die neue totale Überwachung des Sozialverhaltens in China. Dort ist bis 2020 der landesweite Aufbau eines ‚Social-Credit-Systems‘ geplant. Dann erhält jedes Individuum eine bestimmte Bonuspunktzahl für im Sinne der Herrschenden positives Verhalten oder negative Punkte für Verstöße gegen gesellschaftliche Normen. So meldete ‚China Daily‘, dass Schuldner 6.15 Millionen Mal seit 2013 am Fliegen gehindert worden seien. Für eine bestimmte Zahl von Bonuspunkten erhöht mensch seine Chancen auf eine Eliteuni zu kommen oder in die begehrten Städte wie Peking oder Shanghai ziehen zu können. China ist hier nur der Vorreiter einer düsteren Vision der totalen Sozialkontrolle, auch wir bekommen schon ein Ranking bei eBay, oder Facebook, so weit wir davon überhaupt erfahren. Chinesischen Usern verpasst man ein ‚Charakter-Score‘, während der „amerikanische Staat die Tech-Unternehmen dazu anhält, ihre Algorithmen auf eine ‚Radikalitäts-Score‘ hin zu trainieren“, 456

Zuboff hält nicht viel von individueller Abwehr wie Veränderung des Äußeren mittels Gesichtsbemalung oder das Tragen von Alustreifen um die Handyortung zu vermeiden. Das würde nur die Symptome bekämpfen, nicht die Ursache. Erstmal müsse die ökonomische Macht des Überwachungskapitalismus überhaupt begriffen werden: „Es fehlt an einem klaren Verständnis für diese neue Logik der Akkumulation“. Da der Akkumulationszyklus auch noch sich der Wissensteilung bemächtigt hat, bedrohe er die „fundamentalsten Prinzipien sozialer Ordnung (…)“. Zuboff ist an dieser Stelle sehr deutlich und stellt die Systemfrage: “Falls es zum Kampf kommen sollte, dann sollte es ein Kampf um den Kapitalismus sein“, 227.

Zu dem Thema lesenswert ist auch das kleine Buch von Jaron Lanier, einer der Mitbegründer des Internets. Er schreibt in „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst“ eher als typischer Westcoast-US-Amerikaner. Er beklagt den Demokratieabbau und den Verlust an Autonomie durch Google&Co, aber verliert kein Wort über die neue Akkumulationslogik des Kapitalismus. Das Grundübel des Aufstiegs der Werbemachtkonzerne sieht er in einem Webfehler bei der Implementierung des Internet. Es hätte von Anfang an eben nicht kostenlos sein dürfen, dann wäre die heutige Fehlentwicklung vielleicht vermieden worden.

Lanier beklagt die Herrschaft der negativen Meldungen und Fakenews im Netz. Das sei eine bewusste Strategie der Konzerne, denn die negativen oder Hate-News, hätten i. d. R. die meisten Follower. Wie Zuboff kritisiert er scharf die Ausforschung und Überwachung durch die Technologiekonzerne. Den Usern würden Inhalte aufgezwungen und es findet eine „umfassende Verhaltensmodifikation“ statt. Im Mittelpunkt Lanier’s Kritik steht das von ihm so bezeichnete Akronym BUMMER: Behaviors of Users Modified, and Made an Empire für Rent, 43. Mit diesen Algorithmen gelingt es den Konzernen ihre Usern zu manipulieren, sie abhängig, geradezu süchtig zu machen von den Ereignissen der virtuellen Welt. Die Folge ist der Zerfall der Gesellschaftlichkeit, des öffentlichen Raums und die Zerstörung bzw. Modellierung der individuellen Empathie, 111.
Besonders verheerend sei die zunehmende Präsenz von Fake-people, die (Fake-) Bots produzieren und die Wahrheit unterdrücken. Dazu gehört auch die Produktion von Bots, die richtiggehenden Unsinn verbreiten, eine Methode, die u. a. die Alt-Right-Bewegung häufig anwendet, 183.

Durch verschiedene Methoden werden die User auf die Hate-News gelenkt. Die größten „Arschlöcher“ (wortwörtlich Lanier) im Netz bekommen die höchste Aufmerksamkeit, die Emotionen werden in eine bestimmte Richtung gelenkt und so der öffentliche Raum der Gesellschaft vergiftet und zerstört. Das hatte sogar 2016 der ehemalige Vize von Facebook reumütig eingeräumt: „Die von uns entwickelten, schnell reagierenden Feedbackschleifen zerstören, wie die Gesellschaft funktioniert. (…) Kein gesellschaftlicher Diskurs, Keine Zusammenarbeit; Desinformation, Unwahrheit (…)“, Lanier 16.“
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