Tiefrot und radikal bunt. Für eine neue linke Erzählung“ (Nautilus Flugschrift) – das ist erst einmal ein Titel mit Anspruch. Angesichts globaler und lokaler politischer Entwicklungen wie das Erstarken der Rechten inkl. schärferer Angriffe auf linke Errungenschaften, Menschenrechte und soziale Sicherungssysteme, angesichts Klimakrise und Naturzerstörung steht außer Frage, dass es auf der Linken Handlungsbedarf gibt und theoretische Konzepte nötig sind. Viele Linke schrecken vielleicht auch aus Bequemlichkeit vor dem gern so genannten ‚großen Wurf‘ einer neuen linken Erzählung zurück.

Um einiges leichter ist es sicherlich auch, derlei Versuche anderer skeptisch-kritisch auf ihre Fehlstellen hin zu überprüfen. Insofern zeugt es ein Stück weit von Mut, Selbstbewusstsein und vielleicht einer Art Verantwortung auf Seiten der Autorin, der bisher als Journalistin tätigen Julia Fritzsche, sich hier in den Ring zu begeben.

Auf das Einleitungskapitel „Bedrängende Gegenwart“, in der sich Fritzsche von der aktuellen Rechtsentwicklung am Beispiel ihres Nachbarn erschüttert zeigt (dieser wählt nun „leidenschaftslos rechts„), folgen einige theoretische Betrachtungen über das Konzept der ‚Erzählung‘ und schließlich vier „Erfolgreiche Erzählungen“.

Fritzsche schreibt sehr anschaulich, journalistisch konkret. Sie verfolgt soziale Kämpfe und Bewegungen anhand realer Akteur*innen und konkreter Projekte. So dient z.B. ein Streik des Pflegepersonals an der Berliner Charité und die detailreiche Beschreibung der nicht immer einfachen Mobilisierung der Illustration des ‚Care‘-Themas. Für die Darstellung des Modells des ‚Buen Vivir‘ beschreibt sie eine kolumbianische Dorfgemeinschaft inkl. charismatischem Sprecher im Konflikt mit einem Bergbauunternehmen. Die Leserin wird Schritt für Schritt mitgenommen, alles wird ausführlich erläutert, es gibt Unterfütterung mit Theorie-Ansätzen aus dem Feminismus, Queertheorie, Globalisierungskritik, Degrowth-Theorie und Marxismus. Je nach eigenem Hintergrund und Kenntnisstand sind Fritzsches Erzählungen mehr oder weniger aufschlussreich, sie liefert zu allen Themen viele Zusatzinfos, Daten und manch schöne Details oder Anekdoten. Am Ende jedes der vier „Erfolgreiche Erzählungen“-Kapitel wird beinahe schulaufsatzmäßig geprüft, inwiefern die vorgestellten Bewegungen den von ihr aufgestellten Kriterien ‚tiefrot‘ und ‚radikal bunt‘ entsprechen.

Und genau hier liegt eine Schwäche des Buches: auch wenn die Inhalte interessant und sympathisch sind, bleibt die Darstellungsform relativ starr. Obwohl Fritzsche beeindruckende Menschen und Bewegungen schildert und selber über ihre Beispiele recht begeistert scheint, überträgt sich wenig Schwung, das Buch bleibt zu fest im schematischen Aufbau und in der eigenen Begeisterung der Autorin stecken.

Der Appell des Buches lautet, kapitalistische Prinzipien zurückzudrängen, sich der rein ökonomischen Verwertbarkeit durch solidarische Gemeinwohl-Modelle zu entziehen und selbstbewusster als bisher „tiefrote und radikal-bunte“ Alternativen zu leben und zu verteidigen. Das kann nicht schaden und wird von vielen Gruppen, Akteur*innen und Netzwerken seit langem in vielfältiger Art und Weise versucht und praktiziert; das Buch setzt sich aber leider zu wenig mit den Sackgassen und Leerstellen dieser Ansätze auseinander. Wo liegen die Grenzen kleinräumiger Alternativökonomien? Inwiefern können solidarische Care-Ökonomien auch dazu führen, dass staatliche Sozialpolitik noch mehr zurückgedreht wird? Wann kann das emanzipatorische Potenzial von Queerness-Konzepten auch kippen in selbstbezogene Identitätspolitik? Wie kann verhindert werden, dass ein moderner Kapitalismus alternative Modelle schluckt, vereinnahmt, kommerzialisiert?

Es wäre sicher lesenswert gewesen, wenn diese Fragen und Erfahrungen, die bereits gemacht worden sind, mehr aufgegriffen worden wären.

Fritzsches AfD-wählender Nachbar wird von der Idee der Queerness oder der solidarischen Städte wohl nicht ohne weiteres zu überzeugen sein. Um nicht falsch verstanden zu werden: unsere linken Konzepte müssen sich nicht daran messen, ob sie Faschisten zur Umkehr bewegen können, aber das Buch vermittelt zu sehr, wir müssten vor allem selber solidarischer leben, die Erzählungen umdrehen und ein eigenes ‚framing‘ gegen die neoliberale oder rassistische Rhetorik setzen.

Insofern ist das Buch vielleicht ein prima Geschenk für junge Aktivist*innen oder Schüler*innen, die sich gerade an der Klimafrage politisieren. Für viele andere Linke dürfte sich der Mehrwert an Erkenntnis in Grenzen halten. Die Frage, wie ein großer Wurf aussehen könnte, oder ob es angesichts der Kräfteverhältnisse eher an der Zeit für einen radikalen Reformismus ist, darf und muss gerne weiter diskutiert werden!

LinksLesen.de-Kollektiv im August 2019