Dimitris Koufodinas: Geboren am 17. November.

Der Wiener Bahoe-Verlag hat verdienterweise ein im Jahr 2014 in Griechenland erschienes Buch über die Geschichte der Stadtguerillagruppe 17. November (im folgenden: 17N) übersetzt und veröffentlicht. Es ist auch die politische Autobiografie eines ihrer historischen Anführer: Dimitris Koufodinas bescheibt sein politisches Leben und das des 17N. Die Schnittmengen sind gewaltig.

Es ist zu befürchten, dass die verkaufte Auflage der deutschsprachigen Ausgabe gering bleibt. Ein Thema für speziell Interessierte über den bewaffneten Kampf in der europäischen Peripherie. Über eine Guerillagruppe, wie sie zumindest in Westeuropa schon seit einer politischen Generation nicht oder kaum mehr existiert. Hinzu kommt, dass sich für die sozialen und politischen Verhältnisse in Griechenland hierzulande kaum jemand interessierte, solange 17N existierte (1975-2002).

Das hätte das Buch nicht verdient.

Es gibt auch gute Gründe, warum es anders kommen kann. Heute beziehen sich viele deutsche radikale Linke auf die Kämpfe in Griechenland. Viele Militante aus Westeuropa finden sich alljährlich am 6. Dezember in Exarcheia ein, um am Jahrestag der Ermordung von Alexis Grigoropoulos mit den Genoss*innen vor Ort zu kämpfen. Erstaunlicherweise findet auch die griechische Form des Insurrektionalismus – oder Nihilismus, wie Kritiker*innen es nennen – Nachahmung in anderen Ländern.

Auch ist das Buch sehr lesenswert.

Große Vorkenntnisse sind nicht erforderlich, das Buch wartet mit einem ausführlichen Glossar auf, in dem Namen und Kürzel erklärt werden. Über den kleinen Makel, dass die Namen von Personen aus dem griechischen Alphabet eins zu eins übernommen werden und so teilweise im lateinischen Alphabet unaussprechbar werden, kann mensch locker hinweglesen. Die griechische Geschichte von ca. 1941 bis 1973 bricht Koufodinas im Crashkurs gelungen herunter und beginnt mit seinen eigenen Erlebnissen beim Aufstand gegen die Junta im November 1973, als er 15 Jahre alt war. Die Niederschlagung des Aufstandes am zentralen Ort des Polytechnikums (TU) in Athen am 17. November durch die Panzer der Junta ist für eine ganze Generation der griechischen Linken prägend. Ein kleiner Teil organisiert sich als 17N und in einer ersten Aktion wird zwei Jahre später der CIA-Resident in Athen erschossen.

In der Folgezeit wird sich 17N zu einer der spektakulärsten Guerillagruppen in Westeuropa entwickeln.

Dies liegt zum einen an der hohen Anzahl der durchgeführten Aktionen (das Buch listet alle Anschläge in einem Anhang auf), zum anderen aber viel wesentlicher daran, dass bis 2002 niemals auch nur ein einziges Mitglied von 17N bekannt geworden ist, geschweige denn festgenommen wurde. Hinzu kommt eine außerordentlich hohe Sympathie in der Bevölkerung. In vielen durchgeführten Befragungen äußerten zwischen 20 und 30% der Griech*innen ihre Zustimmung zu Aktionen des 17N. Ihre Bekennerschreiben werden von der Tageszeitung Eleftherotypia – einer Art griechischer Frankfurter Rundschau – grundsätzlich ungekürzt veröffentlicht. Die Auflage wird jedesmal drastisch erhöht, weil das Informationsbedürfnis groß ist, warum 17N seine Aktionen durchführt.

Diese ungewöhnliche Verankerung einer Stadtguerillagruppe in Westeuropa – mit Ausnahme von IRA und ETA – mag aber evtl. zum Teil daran gelegen haben, dass vermeintlich nationalistische Tendenzen bei 17N existierten. Aktionen gegen türkische Diplomaten wegen der Besetzung von Nord-Zypern, gegen deutsche Konzerne wegen der Übername von griechischen Firmen, Analysen über Griechenland als US-amerikanisches bzw. britisches Protektorat führten zu dem Vorwurf des Nationalismus seitens anarchistischer Genoss*innen. Fakt ist aber auch, dass 17N eine ganze Reihe von Aktionen gegen griechische Kapitalisten, Konzerne, staatliche Einrichtungen und Politiker durchführte.

Die griechische kommunistische Partei KKE jedenfalls denunzierte 17N permanent als staatliche Provokateure, was aber keine Besonderheit in der Politik der KKE darstellt, da sie jede linke und anarchistische Kraft außerhalb ihrer Parteigrenzen in schlechter Tradition und Alleinvertretungsanspruch als konterrevolutionär versucht darzustellen. 17N seinerseits dürfte sich als marxistisch-leninistische Kraft verstanden haben, die aber dem Grundsatz des Primats der Praxis den Vorrang gab und wie andere bewaffnete Gruppen auch nicht abwarten wollte, bis die „objektiven Bedingungen“ soweit waren, dass die Revolution stattfinden kann.

Ende 1989 Anfang 1990 erfährt die Logistik von 17N einen Quantensprung. Durch den Diebstahl einer Vielzahl von Granaten aus einem Militärdepot und zwei Panzerfäusten aus dem Kriegsmuseum im Zentrum von Athen während der Öffnungszeiten hat die Organisation nunmehr die Möglichkeit, mit Distanzwaffen Anschläge hoher militärischer Qualität durchzuführen. In der Folge kommt es zu einer Vielzahl von Angriffen mit Raketenwerfern und eben den Panzerfäusten.

17N operiert bis 1992 auf dem Höhepunkt seiner Fähigkeiten, zahlenmäßig scheinen genügend Mitglieder vorhanden zu sein, um auch in hoher Schlagzahl bewaffnete Aktionen durchzuführen. Koufodinas beschreibt weit mehr als einmal in anschaulichen Details, wie genau solche Aktionen durchgeführt worden sind.

In der Folgezeit scheinen die Auswirkungen des Falls der Berliner Mauer auch erhebliche Auswirkungen für 17N zu haben. Offensichtlich halten eine große Zahl der Mitglieder den bewaffneten Kampf für keine zeitgemäße Option mehr und verlassen die Organisation. 17N schrumpft von „einer Organisation zu einer Gruppe“, besteht aber weiterhin und löst sich nicht auf, wie andere (bewaffnete) Gruppen in Westeuropa.

Weitere Aktionen werden durchgeführt bis es für 17N zur Totalkatastrophe im Sommer 2002 kommt. Bei einer relativ kleinen Aktion, für die 17N gar nicht vorhatte, die Verantwortung zu übernehmen, wird ein Aktivist durch einen zu früh explodierenden Sprengsatz schwer verletzt und verhaftet. 17N fällt zusammen wie ein Kartenhaus. Die vermeintliche Sicherheit einer scheinbar unfassbaren Guerilla verwandelt sich in das totale Gegenteil, binnen kürzester Zeit ist die Struktur des 17N komplett aufgerollt. Geständnisse, Aussagen, Distanzierungen führen zur Verhaftung von einer Reihe von Personen. Koufodinas ist noch als einer der wenigen auf freiem Fuß. In dieser Situation stellt er sich den Behörden und übernimmt für alle Aktionen von 17N die politische Verantwortung.

In einem politischen Prozess gegen 19 Angeklagte werden 2.500 Anklagepunkte aus fast 30 Jahren Existenz von 17N verhandelt.

Koufodinas verteidigt sich politisch und rechtfertigt jede Aktion. Eleftherotypia veröffenlicht sein Schlusswort aus dem Prozess ungekürzt und hat vorsichtshalber die Auflage verdoppelt, dennoch ist die Zeitung nachmittags kaum mehr erhältlich. Das Urteil gegen Koufodinas ist mit 13 mal lebenslänglich das Höchste. Ihm zustehender Hafturlaub wird jahrelang verweigert. Im November 2017 darf er zum ersten Mal für einen 48 stündigen Hafturlaub den Knast verlassen. Die griechische Rechte, das US-State Departement und die englische Regierung spucken Gift und Galle und fordern schlichtweg, geltendes Recht außer Kraft zu setzen.

Koufodinas scheint ungebrochen und wurde vor nicht allzulanger Zeit aus dem Hochsicherheitstrakt Korydallos in Piräus in ein sogenanntes Agrargefängnis in die Nähe von Volos verlegt.

„Geboren am 17. November. Eine Geschichte der griechischen Stadtguerilla“

Links-Lesen-Kollektiv

Mehr über die griechische Linke findet sich z.B. im ak-Artikel von Heike Schrader: „Breit, laut, militant. Die Linke in Griechenland“, der allerdings schon aus dem Jahr 2007 stammt. Aber auch im Buch aus der Reihe Arbeitsgruppe Marxismus aus Wien: „Revolution und Konterrevolution in Griechenland“ gibt es ausführliche Hintergrundinfos zur griechischen Linken – hier muss jedoch dazu gesagt werden, dass es sich um eine Darstellung aus trotzkistischer Splittergrüppchensicht handelt und (vielleicht deshalb?) viele viele griechische v.a. trotzkistische Splittergrüppchen ausführlichst vorgestellt werden. Dennoch gibt es kaum ähnlich ausführliche Darstellungen über die griechische linke Szene, die auch den Bürgerkriegshintergrund ausführlich erläutern. Zudem findet sich in diesem – nur noch antiquarisch oder über den Weblink bestellbaren Buch – die Schlusserklärung Koufodinas‘ im Prozess gegen 17N vor dem Athener Sondergericht.