Erinnerungen eines Mädchens“ von Annie Ernaux ist ein nur etwa 150 Seiten dünnes Bändchen, das jedoch um so mehr an Intensität enthält. Dies liegt nicht etwa an einem rasanten Erzählstil oder einer bewegten Handlung – es liegt viel mehr an der Schonungslosigkeit, mit der die 1940 geborene französische Schriftstellerin hier ihre erste sexuelle Begegnung aufarbeitet, die auch mit dem Begriff Vergewaltigung zu beschreiben wäre, was Ernaux jedoch nicht direkt tut.

Als 18-Jährige verbringt Ernaux als Betreuerin in einem Kinderferienlager eine Nacht – oder vielmehr einige Stunden – mit dem wenige Jahre älteren ‚Chef-Betreuer‘ der Gruppe, genannt nur H.: Ein Geschehnis, das sie gewünscht und herbeigesehnt hat, abstrakt aus sexueller Neugier und Lust einer bisher unerfahrenen streng erzogenen jungen Frau und konkret mit genau jenem von allen begehrten Mann. Was sie in dieser Nacht erlebt, ist von außen betrachtet eine Mischung aus (nicht unbedingt brutaler) Gewalt, vielmehr Achtlosigkeit, Unterwerfung und vielleicht auch Unbedachtheit – das Gegenteil von Behutsamkeit, Liebe, Lust, Zärtlichkeit, erst recht keine Emanzipation. Interessanterweise greifen jedoch die Begriffe von fehlendem Einverständnis und nicht eingeholter Zustimmung hier nicht, die in heutigen Debatten um sexualisierte Gewalt, Nein-heißt-Nein, Konsens und einvernehmliche Sexualität immer bedeutsamer werden. In einer sicherlich für Ernaux selbst, aber auch für die Leser*in teilweise schwer erträglichen Ehrlichkeit:

Ich wollte dieses Mädchen auch vergessen

entziffert die Autorin, wie sehr sie selbst damals die Zustimmende zum Geschehen war.

Und genau das ist ein Teil des Entsetzens, das sie mit diesem Büchlein auslöst: was sie darin beschreibt, dieses hoch aufgeladene ‚Erste Mal‘ war und ist für unzählige Mädchen und Frauen im besten Falle nur eine Enttäuschung, im häufigeren Fall eine gewaltvolle, eine ernüchternde, eine schmerzhafte und auch oft eine passive, wenig selbstbestimmte Erfahrung – als Vergewaltigung bezeichnet werden diese Erlebnisse jedoch oft genug nicht. Und auch von der jungen Annie, über die Ernaux auch hier wieder nur in der dritten Person schreibt, wird dieser Begriff noch nicht mal im Ansatz gedacht oder formuliert – sie begreift sich dagegen als verliebt und geliebt. Der Akteur H. hingegen, der begehrte Mann, der eine Verlobte zuhause sitzen hat und sich trotzdem alle Frauen ’nimmt‘, die er will, agiert für Annie nicht nur unhinterfragt, sondern er ist der Held der Geschichte. Nach ihrer damaligen Interpretation gibt es keinen Zweifel: er wird sie wollen und lieben…

Keine der konkreten unangenehmen Erfahrungen und Fakten der Nacht und auch nicht das darauffolgende Nicht-Beachten durch H. kommt gegen den Roman an,

der sich von ganz allein in einer einzigen Nacht in ihrem Kopf geschrieben hat

– und dieser Roman romantisiert die ‚Erste Nacht‘ und schreibt für die junge Frau eine Art ideelle Liebesgeschichte, über mehrere Jahre… Was für ihn nur Sex war, war für sie Liebe.

Ohne dass Annie Ernaux diese Frage direkt stellt, sucht das Buch immer wieder Antworten auf dieses grobe Missverhältnis von Begehren und Zurückweisung. Die Art und Weise, wie sie dies tut, zeigt ihre große schriftstellerische Kraft. Auf der inhaltlichen Ebene bringt diese eigentlich sehr intime Befragung ihrer jugendlichen Persönlichkeit Erkenntnisgewinn, aus feministischer und gesellschaftshistorischer Perspektive. Die zweite Nacht, die sie mit H. Verbringt, kommentiert sie knapp und nüchtern:

Ein Vorspiel hat es nicht gegeben – ein unbekanntes Konzept

Die Annäherung an die Geschehnisse erfolgt schrittweise, fragend, anhand von Tagebuchaufzeichnungen, alten Fotos, Erinnerungen, Verdrängtem und kritischer Selbstbefragung:

Ich dekonstruiere das Mädchen, das ich gewesen bin

Als zweite Ebene läuft die Beschreibung des Schreibprozesses selbst mit – das lässt beim Lesen Raum zum Luftholen, andererseits ist die kühle strenge Selbstbeobachtung auf „das Mädchen von 1958“ aus der Distanz oft schwer erträglich. Dies ist nicht als Kritik an der Autorin gemeint – es ist die Thematik, die mitnimmt.

Annie Ernaux beleuchtet indirekt, wie die 50er Jahre und ihre katholische Erziehung ihren Anteil an ihrem eigenen Unwissen, ihrer eigenen Haltung und vor allem ihrer damaligen Sichtweise hatten. Um diese äußeren Ursachen geht es ihr aber nicht in der Hauptsache – da wünscht sich die Feministin von heute manchmal etwas mehr Ursachenforschung und Betrachtung der auch äußeren Verhältnisse.

Der Blick der Autorin bleibt jedoch gerichtet auf das Wechselspiel von Zurückweisung, Begehren, Gruppenprozessen, Hänseleien, Ausschlüssen, Scham, Demütigung und Selbstbestimmung. Sie beschreibt die Stimmung der jungen Annie im Ferienlager, berauscht vom Freiheitserlebnis, von einer Leichtigkeit, froh, dem Blick der Mutter entzogen zu sein. Sie bohrt tief in ihrer eigenen Geschichte, um zu verstehen, warum diese Gefühle stärker wogen als die Enttäuschung über die nach der ersten Nacht erfolgte Zurückweisung durch H., die Ausgrenzung und Verachtung durch die anderen in der Gruppe oder z.B. das öffentliche Aushängen eines ihrer intimen Briefe. Als Erklärung findet sie eine

Verbindung zwischen der Szene mit dem Brief und der Nacht mit H: dieselbe Unfähigkeit zu überzeugen, meinen Standpunkt zu vertreten […] Was vor dem Speisesaal der Kolonie passiert ist, wird zu einer Situation, die seit undenklichen Zeiten überall auf der Erde stattfindet. Jeden Tag bilden Männer irgendwo auf der Welt einen Kreis um ein Frau, um sie zu steinigen“

Für die junge Annie ist das Bedürfnis dazuzugehören wirkmächtig, trotz der Verletzungen und Beschädigungen, denen sie ausgesetzt war, denen sie sich ein Stück weit auch selbst aussetzte;

Sie kann nicht auf die neuen Erfahrungen verzichten, die sie seit dem ersten Tag in der Kolonie macht

Was dann passiert, ist eine sicherlich auch von vielen gemachte Erfahrung in der Pubertät, in der Anerkennung so viel bedeutet, nämlich eine Umkehr der Erniedrigung: die junge Annie macht schließlich selbst mit, einen anderen Jungen fertig zu machen; niemand bricht aus aus dem Zusammenhang…

Am Ende der Tage in der Kolonie ist das „Mädchen von 58“ stolz auf alles, was sie erlebt hat, Demütigungen und Beleidigungen hält sie für bedeutungslos:

Ich sehe in dieser Phase ihres Lebens nichts, was man Scham nennen könnte

Die Schriftstellerin Ernaux von heute hat neben ihren eigenen Briefen auch Literatur und Filme für ihren Erkenntnisprozess verwendet – wohl auch dadurch ausgelöst, dass sie selbst erlebte, wie z.B. Simone de Beauvoirs Schriften in ihr etwas bewegt haben, was mit der damaligen Nacht zu tun hatte. Eine ihrer Hauptfragen, die sie sich immer wieder stellt: was hat sie heute mit dem „Mädchen von 1958“ zu tun?

Ist sie ich? Bin ich sie? Um sie zu sein müsste ich davon träumen, endlich auf eine »Party« zu gehen und der Meinung sein, dass Algerien französisch bleiben soll“

In der momentan aus politischem Interesse viel gelesenen französischen Literatur von Didier Eribon, Virginie Despentes, Edouard Louis und eben auch Annie Ernaux sind es oft Klassenfragen, die interessieren und die debattiert werden. In „Erinnerungen eines Mädchens“ spielen diese auch ihre Rolle, ohne explizit hervor gehoben zu werden. Die junge Annie, Tochter eines kleinen Ladenbesitzers, unterwirft sich in der Zeit nach der Ferienkolonie einem selbstgewählten ‚Programm der Perfektionierung‘, um zu werden „wie die Blonde in S., die Verlobte von H.“, worin neben körperlichen Zurichtungen auch gesellschaftlicher Aufstieg, Bildung, Wissen und ein Zugewinn von Selbstbewusstsein angelegt ist. Der lapidare Kommentar ihres Vaters, als sie als Au-Pair-Mädchen in England arbeitete, lautet:

Im Grunde warst du in England also ein Dienstmädchen

Eine interessante Szene findet sich in der Beschreibung des Blicks der heutigen Annie Ernaux auf H., als sie ein Foto seiner Goldenen Hochzeit im Internet recherchiert hat:

Extremes Missverhältnis zwischen dem Einfluss der zwei Nächte mit diesem Mann auf mein Leben und meiner kompletten Abwesenheit in seinem. Ich beneide ihn nicht, ich bin es, die schreibt

– jedoch auch dieses Gefühl wird einige Jahre später beim Betrachten desselben Bildes wieder von anderen, negativeren Gefühlen überlagert.

Somit bleibt ein Satz, der gleich auf der ersten Seite steht, in seiner ganzen Banalität und Härte auch nach dem Beenden des Buches im Raum stehen:

Dann geht der Andere, man gefällt ihm nicht mehr, er hat das Interesse verloren. Er lässt einen mit der Wirklichkeit allein, zum Beispiel einem schmutzigen Schlüpfer

Und gleichzeitig ist es Annie Ernaux gelungen, eben jene ‚Wirklichkeit‘ mit so großer Wucht und Feinfühligkeit gleichermaßen zu beschreiben und aufzuarbeiten, dass das Buch über diese reine und harte Wirklichkeit hinausreicht.

LinksLesen.de-Kollektiv im Mai 2019