Gabriele Tergit, die erste Gerichtsreporterin, Journalistin und Absolventin der „Sozialen Frauenschule“ von Alice Salomon, schreibt zum Ende der Weimarer Republik ein freches, lustiges, unkonventionelles Buch über den Berliner Bausumpf, Medienrummel und die Wirkung von Reklame: „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ (1931 bei Rowohlt erschienen, aktuell im btb-Verlag aufgelegt)

In erfrischenden Dialogen lässt sie uns teilhaben am neuen Typus der Gesellschaftlichkeit: freie Frauen, die sich nicht binden wollen, freundschaftliche Gespräche unter Kolleg_innen, abendliches Amüsement. Z.B. in der „Neuen Welt“ an der Hasenheide mit proletarischem Publikum. Daneben die Arroganz mächtiger Baulöwen und großbourgoiser Kriegswitwen, die ihre 10-Zimmer-Wohnungen trotz großer Wohnungsnot aus Sentimentalität nicht teilen wollen. Die „gute alte Zeit“ trifft auf die Moderne und bringt am Ende den wirtschaftlichen wie kulturellen Bankrott. Nebenbei flicht sie politische Diskussionen um Gegenwart und drohende Zukunft ein, die Gänsehaut erzeugen, weil sie hellsichtig wirken.

Spannend ist ergänzend das Nachwort von Nicole Henneberg, die u.a. erwähnt, dass Frau Tergit, die die Shoah im Exil überlebt, Kürzungen bei der Neuauflage 1977 erwägte. Die jüdischen Protagonist_innen, die natürlich nicht alle Sympathieträger_innen sind, könnten doch Antisemitismus fördern. Zum Glück konnte der Verlag sie davon überzeugen, die 1931 erschienene Version beizubehalten. Sehr lesenswert, nicht nur für historisch Interessierte!

Eine Freundin des Links-Lesen.de-Kollektivs im Februar 2020