telegraph

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Unsere #ZeitschriftDesMonats ist diesmal ein spannendes Medium der Gegenöffentlichkeit: Die Zeitschrift „telegraph„, das Nachfolgeblatt der legendären „Umweltblätter“ (die von der linken DDR-Opposition von 1987-1989 herausgegeben worden waren), wirft bis heute einen ganz eigenen unangepassten Blick auf Gesellschaft, Geschichte, Kultur und nicht zuletzt auf Berlin.

Herstellung von ‚Untergrundpresse‘

Als Kollektivbetrieb, der als Copyshop entstanden ist, müssen wir zuerst einen Blick auf die technisch-historische Seite der Herstellung oppositioneller Medien werfen – auch, um die Geschichte des „telegraph“ zu würdigen: da Kopierer in der DDR lange Zeit über nur in Behörden und großen Betrieben standen und somit nicht zugänglich waren für Oppositionelle, mussten immer auch technische Voraussetzungen geschaffen werden, um eigene unabhängige Medien zu drucken, im sogenannten ‚Samisdat‘, im Selbstverlag. Es wurden in der DDR vor allem Schreibmaschinendurchschläge und Wachsmatrizen genutzt, so z.B. für die „Streiflichter“ aus Leipzig oder „Schalom“ in Berlin-Friedrichshain.

1978 hatte Honecker eine innerkirchliche Druckerlaubnis erteilt – natürlich streng begrenzt auf Publikationen mit kirchlichen Inhalten… Der entstandene Freiraum wurde genutzt und ausgeweitet von oppositionellen Gruppen, die sich im Rahmen von kirchlichen (Schutz-)Räumen trafen, darunter Punks, Anarchist*innen, Bürgerrechts- und Umweltbewegte. 1986 entstanden die ersten libertär ausgerichteten DDR-Untergrundblätter.
Laut Wikipedia gab es bis Ende der 1980er Jahre „ca. 50 Zeitschriften, Informationshefte und Periodika, die von Bürgerrechts-, Friedens-, Oppositions- und Umweltgruppen in zum Teil hohen Auflagen (bis 5.000 Ex.) verbreitet wurden“ (Quelle: Wikipedia-Artikel „Samisdat“, abgerufen Februar 2019).

Der Vorgänger: Die „Umweltblätter“ ab 1986

1986 erschien in Ost-Berlin die erste Nummer der „Umweltblätter. Info-Blatt des Friedens- und Umweltkreises, herausgegeben von der „Umwelt-Bibliothek“, die bei der Ost-Berliner Zions-Kirchengemeinde Unterschlupf gefunden hatte, mit Schreibmaschine geschrieben, hektographiert und per Wachsmatrizen vervielfältigt.

Die Macher*innen wollten Informationen an die Öffentlichkeit bringen, die von der DDR-Presse, der Politik oder den Behörden nicht berücksichtigt oder bewusst unterdrückt wurden – so landeten die Umweltblätter im Winter 1986/87 zum Beispiel einen Coup mit der Meldung, dass die Smogwerte in der DDR-Hauptstadt massiv über den Grenzwerten lagen (Quelle: Bernd Drücke: „Anarchy in East-Gemany“ in der Graswurzelrevolution).

Die DDR-Staatssicherheit antwortete auf die Systemkritik dieser oppositionellen Bewegung mit Überwachung und Repression. So wurden bei einer Durchsuchungsaktion gegen die Zeitschriften „Umweltblätter“ und „Grenzfall“ am 25.November 1987 fünf Leute festgenommen, Vervielfältigungsgeräte und Manuskripte beschlagnahmt – erst nach Protesten und Mahnwachen in Ost und West kamen die Leute wieder frei. Die Beziehungen in den Westteil Berlins und nach Westdeutschland verstärkten sich – auch durch ausgewiesene Oppositionelle. Linke bzw. antiautoritäre Medien („Graswurzelrevolution“, „direkte aktion„, „Interim“ und „taz“) aus dem Westen druckten Artikel aus den „Umweltbättern“ nach – im Osten gründeten sich neue oppositionelle Medien.

Einen guten Einblick in die Stimmung und politischen Auffassungen der Redaktion im Herbst 1989 findet sich in einer inzwischen digitalisierten „Erklärung der Umweltbibliothek zur derzeitigen politischen Situation in der DDR“ aus September 1989.

Der erste „telegraph“ erscheint

Im aufregenden Herbst 1989 reagierte die Redaktion der „Umweltblätter“ auf die vor ihren Augen ablaufenden Umbrüche und den Zusammenbruch des DDR-Systems: ein schneller erscheinendes Medium musste her. Außerdem wurde eine erweiterte neue Redaktion gebildet mit Mitgliedern aus den Redaktionen anderer Oppositionsblätter: „Grenzfall„, „Friedrichsfelder Feuermelder„, „Antifaschistisches Infoblatt Ostberlin„, „OArning star„, „Kontext„.

Wolfgang Rüddenklau, einer der damals aktiven Redakteure, erinnert sich: „Wir druckten auf unseren ar­beitsmüden klapprigen Wachsmatrizenmaschinen mühselig die 4.000 Exemplare der ersten Ausgabe der Zeitschrift. Binnen 20 Minuten waren sie in der Ost-Berliner Gethse­manekirche an die Demonstranten verkauft. Weitere 2.000 Exem­plare wurden nachgedruckt, während die nächste Ausgabe vorberei­tet wurde“ […] Der telegraph wurde nun alle sie­ben bis zehn Tage von der Ost-Berliner Umwelt-Bi­blio­thek her­ausgebracht (Quelle: Bernd Drücke: „Anarchy in East-Gemany“ in der Graswurzelrevolution).

nach der DDR

In einer Zeit des Wiedervereinigungstaumels und von (neuem) deutschen Größenwahn in Ost und West behielten die „telegraph„-Macher*innen nicht nur einen kühlen Kopf, sondern auch eine kritische Stimme. Der Kapitalismus der Bundesrepublik war nicht die Zielrichtung und somit wurden Wende und Wiedervereinigung aus einer weiterhin oppositionellen Sichtweise kommentiert. Kontroversen wurden teilweise auch im Heft selber ausgetragen, wodurch ein recht breiter Horizont der Bewegung abgebildet wurde. Die Gleichzeitigkeit undogmatisch antistalinistischer und antikapitalistischer Positionen der linken DDR-Opposition war für einige ‚Kommie‘-Strukturen der West-Linken mindestens überraschend, wenn nicht unvereinbar mit ihrem Weltbild… Wer die Haltungen der damaligen Zeit besser verstehen will, der/die findet auf der Seite des „telegraph“ im Archiv dankenswerterweise viele Ausgaben zum Nachlesen.

telegraph Nr 08_1990

Es finden sich Texte, Interviews und Analysen zur Aufarbeitung der eigenen Oppositionsgeschichte und zur Überwachung durch das MfS, Aufrufe zur Kriegsdienstverweigerung, Diskussionen aus besetzten Häusern, Antifa-Texte über Nazis, weiterhin Studien zur Umweltbelastung und in den späteren Jahren mehr und mehr eine kritische Begleitung des Ausverkaufs der DDR. Dies war und ist für außerparlamentarisch aktive und Interessierte mit Ost- oder West-Biographie spannend zu lesen.

Und für lesenswert halten wir auch die heutigen Ausgaben des telegraph, die bei Erscheinen manches Mal mit einer Lesung gefeiert werden – Diskussion inklusive.

In der aktuellen Nummer geht es um nicht weniger als um Revolution, um das letzes Jahr erschienene Buch „30 Jahre Antifa in Ostdeutschland“, Israel-Palästina – also man sieht: es geht um viel!

Bestellen könnt ihr leider nicht bei uns direkt, aber dafür hier, beim telegraph direkt. Tut das!

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