Grit Lemke: Kinder von Hoy

Hoy steht für Hoyerswerda – was wahrscheinlich nur für Menschen außerhalb der Lausitz erklärt werden muss. Bundesweit steht diese Stadt für das erste Pogrom in diesem wiedervereinigten Land, noch nicht einmal ein Jahr nach diesem fundamentalen Ereignis. Auch darum geht es in diesem wunderbaren Buch von Grit Lemke: „Kinder von Hoy (Suhrkamp Nova), aber längst nicht nur.

Der Untertitel „Freiheit, Glück und Terror“ fasst es ziemlich gut zusammen, was das Autor*innenkollektiv um Grit Lemke aufgeschrieben hat. Denn es kommen immer wieder viele Stimmen, nicht nur die Hauptautorin zu Wort, was dem Buch erkennbar gut tut.

Beschrieben werden die Anfänge vom „neuen“ Hoyerswerda, welches die Partei Anfang der 1960er Jahre aus dem Lausitzer Boden stampfen ließ. Die Wohnkomplexe 1 bis 10 – WK abgekürzt – bestanden aus Platte von vorn bis hinten und ganz vielen neuen Bewohner*innen, von denen die meisten im Kraftwerk Schwarze Pumpe malochten. Die altersmäßige Homogenität brachte es mit sich, dass viele viele Kinder dort gleichzeitig aufwuchsen. In das „alte“ Hoyerswerda – ein Dorf oder eine Kleinstadt – ging mensch so gut wie nie – alles was es gab, gab es auch in den WK. Kindererziehung – oder was damals dafür gehalten wurde – fand im weitesten Sinn im Kollektiv statt. Irgendwo war immer jemand Erwachsenes, der die Kids zusammenstauchte. Das Leben fand größtenteils draußen statt, wann immer es die Temperaturen erlaubten und teilweise darüber hinaus.

Die Clique um Grit Lemke fühlte sich wohl in Hoy und hatte keine Sehnsucht nach westlichen Konsummodellen. In den 1980er Jahren versuchten sie, in einem Kulturclub gegenkulturelle Programme zu etablieren und leisteten so eine Art konstruktiver Opposition gegen die allgegenwärtige Partei. Allerlei Veranstaltungen mit kritischen Künstler*innen oder mit Bezug zum Dadaismus werden durchgeführt und machen das Leben in der Platte angenehmer.

Die jungen Erwachsenen gehörten zu der Fraktion, welche eine bessere DDR wollte und keinen plumpen Anschluss an die BRD. Sie wollten einen wirklichen Sozialismus und keinen realen. Ihre Sichtweisen und Vorgehensweisen nötigen uns aus westlicher Perspektive großen Respekt ab. Es ist ein Buch, welches die DDR-Gesellschaft viel näher bringt als eine Menge anderer Publikationen. Die Protagonist*innen gehörten zu einer Art linker Opposition, auch wenn sie sich möglicherweise selbst gar nicht so gesehen haben.

Überzeugend und kritisch auch die Darstellung der Nazis in Hoyerswerda: Kein Schöngerede, keine Verharmlosung, wie es von offiziellen Seiten so häufig geschehen ist. Dazu gehört auch das klare Benennen der Tatsache, dass es auch in der DDR schon Rechte und ihre Umtrieben gegeben hat und dass das Pogrom im Herbst 1991 nicht vom Himmel fiel.

Die vielschichtige Beschreibung der immer stärker werdenden Präsenz von Rechtsextremen im Alltagsleben gehört zu den absoluten Stärken dieses Buches, obwohl diese Thematik nicht im Vordergrund steht. Man erlebt die Unsicherheiten, die durch die ersten Nazis ausgelöst wurden, das Nebeneinander-Leben, das frühe Nicht-Verstehen dessen, was hier gerade entsteht. Hier werden keine antifaschistischen Held*innengeschichten geschrieben, das ist bewegend und beklemmend zugleich

Beklemmend dazu ist auch die Geschichte von David, der Teil des Autor*innenkollektivs ist. David kam 1979 als sog. Vertragsarbeiter aus Mozambique nach Hoyerswerda, wurde nach dem Pogrom gekündigt und nach Mozambique abgeschoben, wo er seitdem arbeitslos ist.

Das Buch besticht durch genaue Beschreibungen der jeweiligen gesellschaftlichen Situation im Mikrokosmos einer Stadt – dies gilt für die Zeit der Existenz der DDR, als auch für die Zeit nach dem Mauerfall. Hierzu brauchen die Autor*innen weder soziologische Untersuchungen noch Zahlen, Daten und Fakten, sondern sie haben ihre eigene Geschichte aufgeschrieben, mal nachdenklich, mal nüchtern, manchmal witzig, manchmal wehmütig. Ein wunderbares Buch – (nicht nur) für die zu empfehlen, die wenig bis keine Ahnung über die DDR haben. Aus linker Perspektive wird die Geschichte einer ganzen Generation transparent – ohne nachträgliche Romantisierungen bezüglich der Enge und Kleingeistigkeit eines ehemaligen Herrschaftsmodells.

Grit Lemke: „Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror“  September 2021, Suhrkamp nova, 255 Seiten Klappenbroschur, 16 Euro

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