Mike Davis: Vogelgrippe

jetzt zum freien Download beim Verlag Assoziation A: „Vogelgrippe“ – Danke an den Verlag, ein guter Beitrag zur aktuellen Situation. Wir haben das Buch neu gelesen, hier besprochen und eine aktuelle Einordnung versucht:

Der Stadtsoziologe und Historiker Mike Davis war in den Neunziger- und Nullerjahren ein gefragter Autor in der linken Szene. „City of Quartz“ – eine faszinierende Chronik zur Sozialgeschichte Los Angeles‘ – war quasi Pflichtlektüre, genau wie später „Planet of Slums“ zur Urbanisierung der Armut und dazu, wie sich Militärstrateg*innen auf Häuserkämpfe in immer größer werdenden Slums weltweit vorbereiten. In „Die Geburt der Dritten Welt“ geht es um Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter und in „Ökologie der Angst“ beschreibt der marxistische Analytiker bereits 1998 die Auswirkungen des Klimawandels erneut am Beispiel der Megalopolis Los Angeles. Davis ist mit seinen Werken sehr breit aufgestellt und recht gut lesbar. Er stellt in seinen Büchern stets einen Zusammenhang her zwischen gesellschaftlichen Phänomenen (eben Klimawandel, Epidemien, Stadtentwicklung usw.) und den Folgen für die verschiedenen Segmente der Gesellschaft. Die Auswirkungen für den prekärsten Teil einer Gesellschaft werden von Davis häufig in das Zentrum seiner Analyse gestellt. Allein diese Perspektive unterscheidet ihn von vielen anderen Autor*innen.

Die „Vogelgrippe“ von 2005 zählte – zumindest bisher – zu seinen schwächeren Werken. Das Buch widmet sich einem sehr speziellen Thema, dem die Linke sich bisher kaum zugewandt hat. Es ist in (kleinen) Teilen natürlich naturwissenschaftlich geschrieben und damit für viele nicht so leicht lesbar. Davon sollte sich jedoch niemand abschrecken lassen.

In „Vogelgrippe“ steht die auch heute oft erwähnte „Spanische Grippe“* von 1918 am Beginn der Influenzaepidemie. Damals starben geschätzt etwa 50-100 Millionen Menschen weltweit (bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 2 Milliarden demnach bis zu 5%), allein in Berlin traf es etwa 40.000 Menschen. Ignorante Behörden trafen keinerlei Maßnahmen, auch, weil das Grippevirus sich damals wie heute in erster Linie dort ausbreitet, wo es leichtes Spiel hat: in engen Wohnverhältnissen mit mangelhaften sanitären Verhältnissen, schlechter medizinischer und prekärer Lebensmittelversorgung – also genau nicht dort, wo die Reichen wohnen. Damals starben allein im westlichen Indien – begünstigt durch eine Missernte mit anschließendem Hunger – nach Schätzungen zwischen 26 und 36 Millionen Menschen.

Davis beleuchtet im Zusammenhang mit Virusepidemien auch die Rolle der Pharmakonzerne und der US-amerikanischen Regierungspolitik. Während es unter demokratischen Regierungen wie Clinton zumindest noch halbherzige Versuche gab, geeignete Mittel zu entwickeln und finanzieren, stand unter der Bush-Administration die Bekämpfung von Krebs und Herzkrankheiten im Mittelpunkt – die großen Probleme der weißen Mittelschicht. Für Pharmakonzerne sind Medikamente gegen Grippeviren aus kommerziellen Gründen schlicht uninteressant – die Profitmargen sind zu gering und außerdem sind präventive Medikamente, die bereits Krankheitsausbrüche verhindern, aus Konzernsicht kontraproduktiv. Investiert wird lieber in Medikamente gegen chronische Krankheiten oder Livestyle Präparate wie Viagra. Davis liefert auch verstörende Zahlen hinsichtlich der sozialen Zusammenhänge, wonach in den USA lediglich 22% der AfroAmericans, 19% der Latin@s und 14% der Nichtversicherten gegen Grippeviren geimpft sind. Hinzu kommen bei Senior*innen ab 65 Jahren nur 39% der Schwarzen, aber 71% aller Weißen. Auch das neoliberale und auf Profit getrimmte Krankenhaussystem wird kritisch unter die Lupe genommen. Die dortige Veränderung, weg von der Versorgung für die Bevölkerung, hin zu Gewinnen von privaten Investor*innen, hat dafür gesorgt, dass für einen epidemischen Notfall viel zu wenig Betten zur Verfügung stehen. Denn leere Betten werden in erster Linie als Kostenträger und nicht als Reservekapazität für den Notfall bewertet.

Die Entstehung von Pandemien wird laut Davis vom weltweiten Agrobusiness und hier speziell der Tierindustrie erleichtert. Das immer weitere Voranstreben des Menschen in die letzten unberührten Flecken der Erde, die Inwertsetzung von quasi allem und die industrielle Haltung von Geflügel hat seiner Meinung nach die Ausbreitung der Vogelgrippe ab 1997 erheblich begünstigt. Viren haben so viel leichteres Spiel, von Wildtieren auf Zuchttiere überzuspringen und von dort aus die Artengrenze zum Menschen zu überwinden. Es wäre somit kein Zufall, dass in eng besiedelten Gegenden in China viele Pandemien ihren Ursprung hatten. Die industrielle Fleischproduktion ist in der ganzen Welt stetig im Wachstum, in China allerdings ist das Wachstum der letzten 40 Jahre am größten.

Multinationale Konzerne haben weltweit ein ureigenstes Interesse an der Verharmlosung von Epidemien, da diese ihr Geschäftsmodell direkt bedrohen. Willfährige Regierungen – oft, aber nicht nur autoritärer Art und Weise – gibt es ebenfalls zuhauf, die dieses Spiel mitspielen. Es geht schließlich um hohe Profite für die Konzerne, mögliche – auch drastische – gesundheitliche Gefährdungen für viele Menschen werden öfters billigend in Kauf genommen. So dürfte es auch heutzutage kaum ein Zufall sein, dass u.a. Bolsonaro, Trump und Johnson mindestens anfänglich die Gefahr der Coronapandemie herunterspielten.

Nach Davis war es in der Vergangenheit oft eine Aneinanderreihung von Glück und Zufall, dass die Pandemien in der Regel relativ glimpflich verliefen. Aber irgendwann ist auch dieses Reservoir aufgebraucht – warten wir ab, wie die Coronapandemie weiter verläuft. Sowohl ein relativ milder Verlauf – zumindest in den Metropolen – erscheint heute ebenso möglich wie ein dystopisches Szenario.

*der Name rührt daher, dass in den Zeiten der Pressezensur im Ersten Weltkrieg zuerst spanische Medien über die Pandemie berichteten

Links-Lesen.de-Kollektiv Ende März 2020