Anfänge

Im Buch „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“ von David Graeber und David Wengrow wird alles gegen den Strich gebürstet.

Hier schreiben zwei anarchistische Archäologen und Anthropologen völlig neu über die letzten 12000 Jahre, die Geschichte der Entstehung von Herrschaft, Patriarchat, Staat, Zivilisation, Eigentum, Macht, Freiheit, Sklaverei und Fortschritt.

 

Anhand neuer archäologischer Funde in allen Erdteilen demontieren die beiden Wissenschaftler zentrale Thesen der Legitimation heutiger Herrschaftsformen, mit ihrer skandalösen weltweiten Ungleichheit und Unterdrückung.

Graeber / Wengrow nehmen das vorherrschende Theorem der Evolutionstheorie auseinander, nach der erst die Jäger / Sammler über zehntausende von Jahren bis zum Ende der Eiszeit die Erde bevölkerten, dann die neolithische Revolution die Landwirtschaft schuf und damit das Privateigentum, die Überschusswirtschaft und den Städtebau ermöglichte und schließlich der technologische Fortschritt der Motor der Geschichte wurde.

Die beiden Autoren weisen nach, dass diese Periodisierung der Geschichte der Menschheit schon vor Jahrzehnten als widerlegt eingestuft wurde und vor allem aus einer kolonialistischen-ideologischen Sicht die Frühgeschichte so geschrieben wurde – eben als Geschichte der Sieger, der westlichen Zivilisation mit dem Kapitalismus und Egoismus als kulturelle Dominanz und Endpunkt der menschlichen Geschichte.

Die Autoren weisen nach, dass Privateigentum und Patriarchat eben nicht mit der Landwirtschaft das Licht der Welt erblickten, sondern regional unterschiedlich schon vorher unter den Jägern und Sammlern vorkam. Und dass die neolithische Revolution 3000 Jahre dauerte, bis der Ackerbau im Zweistromland vorherrschend wurde. Es also keine lineare Aufwärtsentwicklung gab, sondern immer wieder Experimente, Scheitern und Neuanfänge.

Pikant daran ist, dass diese westliche Zivilisation und „Wertegemeinschaft“ sich allerlei abgeschaut hat u. a. von nordamerikanischen indianischen Gesellschaften. So ist die französische Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts – mit solchen herausragenden Denkern wie Rousseau, Voltaire oder Montesquieu und ihren Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – undenkbar ohne die Inspirationen eines Häuptlings Kondiaronk vom Stamm der Irokesen. Kondiaronk kritisiert den (individualistischen) Freiheitsbegriff der ‚zivilisierten‘ Franzosen, der eng an Geld und Reichtum gekoppelt ist:

„Ich versichere, dass das, was ihr Geld nennt, der Teufel der Teufel ist, der Tyrann der Franzosen, der Quell alles Bösen, das Verderben der Seelen und das Schlachthaus der Lebenden“

äußert er in einem Streitgespräch mit Jesuiten. Hingegen verstehen die Irokesen unter Freiheit was gänzlich anderes: Rücksichtnahme auf andere, Bewegungsfreiheit und die Freiheit, Befehle zu verweigern. Freiheit und Gleichheit bezog sich dabei ausdrücklich auch auf die Gleichheit der Geschlechter, was die Jesuiten besonders empörte. Die Statements Kondiaronk’s gegenüber französischen Siedlern und den jesuitischen Missionaren wurden in Europa zu Bestellern.

Das Buch „Anfänge“ hat 670 Seiten, versehen mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat, liest sich aber dennoch recht einfach, hat keine gestelzten Sätze und Wortungetüme. Die zentrale Aussage fassen Graeber / Wengrow gleich zu Anfang zusammen:

“Heute wissen wir, das menschliche Gesellschaften vor der Entstehung der Landwirtschaft nicht auf kleine, egalitäre Gruppen beschränkt waren. Ganz im Gegenteil – schon zuvor fanden in der Welt der Jäger und Sammler mutige soziale Experimente statt, die weit mehr einem Karnevalszug politischer Formen glichen als den öden Abstraktionen der Evolutionstheorie. Die Landwirtschaft wiederum war nicht mit der Entstehung des Privateigentums verbunden, und sie bedeutete keineswegs einen irreversiblen Schritt Richtung Ungleichheit. In Wirklichkeit waren viele der ersten landwirtschaftlichen Gemeinden relativ frei von Rängen und Hierarchien. Und eine überraschend große Zahl der ersten Städte auf unserem Planeten war weit davon entfernt, Klassenunterschiede in Stein zu meißeln. Sie waren in robusten, egalitären Strukturen organisiert – ohne Bedarf an autoritären Herrschern, ehrgeizigen Krieger-Politikern oder auch nur herrischen Verwaltern.“

Ihre selbst gestellte Hauptfrage, wieso ist die heutige (soziale) Ungleichheit so festgezurrt und scheinbar alternativlos, beantworten sie allerdings nur indirekt mit den unzähligen Verweisen auf die viel längere Geschichte von Revolten gegen Könige, Kriege und Sklaverei als der uns bekannten ersten Revolte, des Spartacusaufstands im römischen Reich.

Die Geschichte ist nicht zu Ende – und der „Fortschritt“ in Richtung Emanzipation und Gleichheit für alle Menschen wird in Zeiten des Klimawandels und der geraden neuen Aufrüstungsspirale neu zu bestimmen und zu erkämpfen sein.

David Graeber und David Wengrow: „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“  Januar 2022, Klett-Cotta-Verlag, 672 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag, 28,00 Euro

Ein Freund des Links-Lesen.de-Kollektivs im April 2021