Kirmen Uribe: Das Vorleben der Delfine

Das Vorleben der Delfine“ ist ein Roman aus dem Baskenland über Freundschaft, Liebe, Pazifismus, New York, Euskadi, Covid-Pandemie, eine historisch interessante Persönlichkeit – das klingt doch erst einmal ziemlich interessant. Noch dazu ein Klappentext, der mit Lobhudeleien nicht spart („meisterhafte Verbindung“, „leichthändiger großer Roman über Krieg und Frieden“), das macht doch Lust auf die Lektüre.

 

Buchcover fotografiert vor Meer

Kirmen Uribe – ein vielfach ausgezeichneter großer baskischer Autor – versucht im Roman, sich der Pazifistin Rosika Schwimmer (1877 bis 1948) anzunähern. Im Rahmen eines Stipendiums durchstöbert er an der New Yorker Public Library die zahllosen Kisten mit Fundstücken über sie und von ihr. Parallel beschreibt er Stationen aus Schwimmers Aktivistinnen-Dasein und das Ankommen von ihm, seiner Frau und den beiden gemeinsamen Kindern in New York. Die Person Schwimmer tritt mit der Zeit immer mehr in den Hintergrund – im sog. „zweiten Buch“, welches überraschenderweise aus der Perspektive von Uribes Ehefrau Nora geschrieben ist, taucht Schwimmer kaum noch auf.

Rosika Schwimmer war eine entschiedene Pazifistin und damit womöglich ein Vorbild des Autors: Uribe hat immerhin so viel persönliche Konsequenz auf sich genommen, dass er für seine politischen Ideale in den Knast gegangen ist, weil er in Spanien den Kriegsdienst verweigert hatte. Dafür gebührt ihm großer Respekt. Schwimmer war u.a. eine große Aktivistin im Ersten Weltkrieg und trat für den Frieden ein – wofür auch ihr großer Respekt gebührt.

Aber die Zeichnung des Autors überschreitet leider mehrfach die Grenze zur politischen Naivität: es gäbe doch so gute Argumente gegen den Krieg, warum hören die Herrschenden denn nicht darauf? Eine Antwort wird leider nicht mal im Ansatz gegeben, da der Autor möglicherweise keine weiß. Kriegführung muss ja nicht gleich mit dem großen „I“ wie Imperialismus erklärt werden, aber das etwas kleinere „I“ wie Interessen, denen nun mal das Leid hunderttausender Soldaten völlig egal sind, könnte zumindest mal erwähnt werden. Nein, es wird weiter an der vielfach widerlegten Illusion gestrickt, dass mensch nur die besseren Argumente brauche, um Regierungen – von was auch immer – überzeugen zu können – schade.

Leider ist „Das Vorleben der Delfine“ entgegen der Verlagsankündigung kein großer Roman – weder über Krieg und Frieden noch über sonst was. Die Spannungsbögen sind bescheiden, häufig wird nur Alltägliches oberflächlich beschrieben und Überraschungen bleiben rar. Viele historische und aktuelle Auseinandersetzungen werden nur in aller Kürze erwähnt und es wird zum nächsten Thema übergegangen. Die Maus in der New Yorker Wohnung des Autors bekommt mehr Raum im Buch als der Polizeimord an George Floyd. Was ja noch Sinn machen könnte, wenn die Sache mit der Maus über das rein Deskriptive hinaus gehen würde, was es aber leider nicht tut.

Auch die Abhandlung auf zwei Absätzen, dass die sexuelle Revolution von 1968pp. in erster Linie Männern genutzt hat, ist weder neu, noch genauer reflektiert, noch mit irgendeinem neuen Aspekt versehen und auch literarisch nicht überzeugend. Dass der Autor im „zweiten“ Buch die – hoffentlich nicht vorhandene – historische Beschränktheit seiner Ehefrau anführt, um Hannah Arendts These der Banalität des Bösen vorzustellen – wohlgemerkt: nur vorzustellen – ist dann doch etwas too much. Denn auch dieser Aspekt versinkt im Treibsand einer gewissen Banalität von Teilen des Buches.

Am meisten gelungen sind noch die Erinnerungen an Kindheit und Jugend in Ondarroa, einem baskischen Fischerort nahe Donostia (San Sebastian). Hier kommt am ehesten die literarische Qualität des Autors durch. Diese Abschnitte lesen sich flüssig, vermitteln bleibende Eindrücke und sind vielfach gelungen. Aber auch hier finden wichtige Prozesse einfach „irgendwie“ statt und werden so gut wie nicht dargestellt oder erklärt, wenn etwa die beste Freundin von Nora sich der ETA annähert.

Schade, die Themen hätten Potential für einen wirklich großen Roman gehabt.


Kirmen Uribe: „Das Vorleben der Delfine„, Übersetzt von: Stefan Kutzenberger, Berlin Verlag, Juli 2023, Hardcover mit Schutzumschlag, 396 S., 26 €


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