Diaty Diallo: Zwei Sekunden brennende Luft

Ist „Zwei Sekunden brennende Luft“ ein Roman über Polizeigewalt in den Banlieues? Ja und nein. Ja, weil Polizeigewalt hier in einer der vielen französischen Vorstädten in ihrer Alltäglichkeit beschrieben wird, die so häufigen Polizeikontrollen, Schikanen, Razzien, Durchsuchungen, Schläge, Prügel in der Wanne, Festhalten auf der Polizeistation – und ein Polizeimord. Und nein, weil im Buch nicht so sehr die Handlungen der Polizei im Vordergrund stehen, sondern vielmehr das Leben, Denken und Fühlen der Bewohner:innen der Banlieues.

Buchcover in pink und orange gelayoutet

Die französische Autorin Diaty Diallo, die sich selbst als eine „Banlieusarde“ bezeichnet, kennt und schreibt Alltagsgeschichte aus den Vorstädten. Und zur Tragik gehört, dass Polizeigewalt dort ein Teil der Alltagsrealität ist, vor allem für (nicht-weiße) Jugendliche.

Der Roman ist vielleicht auch eher eine Art Kurzgeschichte, keine langwierig aufgebaute Geschichte, eher wirkt das Buch wie Notizen aus den Randbezirken, die Schlaglichter werfen auf die Lebenswelt, die Ideen, Träume, Ängste und Leidenschaften der jugendlichen Bewohner:innen. Es gibt die Clique von fünf Jungen, aus der die Haupterzählperspektive stammt, es gibt die liebevoll so genannten „kleinen Brüder“, die als wuselige aufgeregte Gruppe überall auftauchen und um die es sich zu kümmern gilt, damit sie nicht zu viel Blödsinn machen. Es gibt die Mütter, deren wichtige Präsenz für die Gemeinschaft – vielleicht etwas zu klischeehaft – vielfach über das Essen abgebildet wird, das sie zu den Festen und Zusammenkünften bereiten. Die Väter hingegen gibt es kaum, eher noch die Alten, die irgendwo sitzen und ein Getränk nehmen.

Musik spielt eine tragende Rolle: Zitate aus Songs bilden Überschriften, Einschübe und Gedankensplitter der erzählenden Figuren, die im öffentlichen Raum herumtreiben, feiern, rumhängen, leben. Die Sprache geht teilweise ähnlich treibend voran wie ein schneller Beat und verharrt an anderen Stellen nachdenklich, stockend. Partys und Musik sind die Momente und Orte, an denen gefeiert und getanzt und geliebt wird, wie Jugendliche es woanders auch tun – nur hier sind die Orte „illegale“ Keller, Parkdecks, öffentliche Räume. Und genau hier dringt die Ordnungsmacht immer wieder ein und zerstreut die Feiernden, zerkloppt das Equipment, verhaftet die Feiernden – und (zer-)stört somit immer wieder diese kleinen Momente der Freizeit, der Ungezwungenheit und der dringend nötigen Abwechslung aus dem Alltagsgrau. Auch diese Razzien sind in gewisser Form alltäglich, die Abläufe vertraut, die Aufregung nicht mehr jedes Mal so groß – und doch liegt darin der Funke, der überspringen kann und etwas Größeres auslöst. Die x-te Bullenkontrolle am selben Tag, die immer gleichen rassistischen Provokationen, der eine demütigende Spruch zu viel und dann wehrt sich Issa, einer der Jungs aus der Clique. Er kommt blutig aus der Wache zurück. Die Situation ist aufgeheizt und es kommt zum Polizeimord an einem der „kleinen Brüder“. Wie die Clique und das Viertel sich daraufhin fulminant wehrt, beschreibt der letzte Teil des Buches.

Bouna Traoré, Zyed Benna, Lamine Dieng, Ali Ziri, Adama Traoré, Nahel – das sind nur einige Namen von Opfern von Polizeigewalt in Frankreich. Allein im Jahr 2022 starben 13 Menschen durch Schüsse, die im Rahmen von Verkehrskontrollen durch französische Polizisten abgegeben worden sind. Vieles wurde nicht ordentlich aufgeklärt, die Komitees der Hinterbliebenen bilden in Frankreich eine wichtige Stimme, die Polizeibrutalität, Rassismus und Justizversagen anklagt, genauso wie die soziale Not und Chancenlosigkeit in den Banlieues. Mit Diallos Roman ist eine weitere, eine literarische Stimme dazu gekommen. Sie anzuhören, kann gerade auch für politische Bewegungen gegen Rassismus und Polizeigewalt hier von Nutzen sein, weil sie aus Erfahrung, aus Betroffenheit und mit Leidenschaft und Empathie spricht. Und genau hier liegt auch eine Krux, denn die Schilderung der Bewohner:innen des Viertels gerät ein wenig zu glatt: eine harmonische community ohne Konflikte und Streit, die Clique ein Inbegriff innigster edler Freundschaft ohne wenn und aber, kein Misstrauen untereinander, kein Sich-Zurückgesetzt-Fühlen, keine Hierarchien, kein Neid, keine Unsicherheiten. Das ist zu sehr Abziehbild, auch wenn es dem (literarischen oder politischen?) Ziel dient, der Staatsmacht geschlossen entgegen zu treten. Hier wären mehr Graustufen gut gewesen, ein paar mehr Nuancen, um nicht in die Falle der Romantisierung zu tappen.

Richtig gut: die Gestaltung des Buches, mit hart leuchtenden Neonseiten, mit an den oberen Rand gesetzten Texten, was die Schnelligkeit der Sprache betont, die von Nouria Behloul & Lena Müller im Team übersetzt worden ist. Eine Musikliste hinten im Buch ist ebenfalls eine schöne Idee des Verlages.


Diaty Diallo: „Zwei Sekunden brennende Luft“ | aus dem Französischen von Nouria Behloul und Lena Müller | erschienen 08/2023 | 192 Seiten | Paperback |  20,00 €

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