Mehr als eine Biografie

Helena Janeczek ist mit „Das Mädchen mit der Leica“ ein außergewöhnliches Porträt der Internationalistin und Fotografin Gerda Taro und – was noch beeindruckender ist – ein Porträt der damaligen Zeit gelungen. Sie versucht dieser bereits mit 27 Jahren im Spanischen Bürgerkrieg umgekommenen Frau nahe zu kommen, indem sie die Perspektiven von drei ihrer engsten Freund*innen einnimmt. Aus vielen Recherchen, Biographien, Archivmaterial und überlieferten Erinnerungen komponiert Janeczek ein literarisches Kunstwerk: in drei eigenständigen Teilen lässt die Autorin Taros Gefährt*innen sprechen, sich erinnern und dabei ihr Leben und das von Gerda Taro reflektieren.

Das ist sehr gut gemacht, einfühlsam und spannend geschrieben, fiktional, aber historisch ganz nah an den bekannten Fakten. Es ist auch deswegen so gut lesbar, weil Janeczek ihre drei Protagonist*innen mit ihrem eigenen Leben ernst nimmt und nicht nur als Erzählende instrumentalisiert. Herausgekommen ist somit viel mehr als eine Biographie von Gerda Taro, es ist eine Art Panorama einer historisch sehr aufgewühlten Zeit.

Gerda Taro, aufgewachsen in Stuttgart und später in Leipzig, kam früh in Kontakt mit sozialistischen Gruppen und bewegte sich fortan in linken Kreisen. Sie war sowohl durch ihre Widerstandsaktivitäten gegen das NS-System als auch wegen ihrer jüdischen Herkunft gefährdet und entkam 1933 gemeinsam mit ihrer Freundin Ruth Cerf nach Paris. In der sich dort nach und nach einfindenden Exil-Gemeinde bewegte sich Gerda Taro offenbar sehr aktiv und lernte viele auch heute noch bekannte Künstler*innen, Intellektuelle und Linke kennen, darunter den Ungarn Endre Ern? Friedmann, der später unter dem von Taro erfundenen Namen Robert Capa ein berühmter Fotograf wurde. Beide begleiteten den Widerstand gegen den Franco-Putsch in Spanien aus antifaschistischer Motivation, indem sie Fotos aus dem Bürgerkrieg machten, die zum Teil weltweit veröffentlicht wurden und somit auch propagandistischen Effekt hatten. Kurz nach Taros Unfalltod im Juli 1937 auf der Flucht vor den franquistischen Truppen wurden Fotos von Gerda Taro in der US-amerikanischen Zeitschrift „Life“ veröffentlicht.

Die erste Perspektive nimmt der ewig in Taro verliebte Mediziner Willy Chardack ein. Als herausragender Wissenschaftler in den USA lebend wird er durch einen Telefonanruf von Taros früherem Liebhaber Georg Kuritzkes an die damaligen Zeiten erinnert. Er blickt auf die Jahre in Leipzig und später in Paris, er blickt auf eine Gerda Taro, die er anhimmelt und immer wieder unterstützt und auf eine Gerda Taro als Partnerin und Geliebte des Fotografen Robert Capa. Die Erinnerungen lesen sich sehr lebensnah, treffend, nachdenklich-träumerisch, aber auch rational abwägend vor dem Erfahrungshintergrund eines inzwischen gealterten Mannes. Sie lassen die Atmosphäre in Leipzig Ende der 20er / Anfang der 30er Jahre sehr lebhaft wieder auferstehen. In Paris, wohin beide emigriert waren, studiert Chardack Medizin und beobachtet und begleitet Taros Entwicklung von der prekären Exilantin mit schlecht bezahlten Tipp-Jobs hin zur später gefeierten Fotografin.

Janeczek gelingen aber auch eindrückliche Szenen über Antisemitismus, den der nicht-religiöse Chardack später in den USA in unerwarteten Momenten erleben muss oder über die Fremdheit, die er empfindet, wenn er mit religiösen Jüd*innen oder geschichtsignoranten Leuten zusammentrifft. Großartig zum Beispiel die kleine Momentaufnahme, wenn Chardack einer unpolitischen High Society-Dame in den USA entgegnet, die es ausschließlich romantisch findet, dass er in Paris studierte: „Selbst in Paris duftet das Leichenschauhaus nicht nach Chanel No. 5“ und damit die Stimmung gekonnt ruiniert…

Im zweiten Teil erinnert Taros langjährige Freundin Ruth Cerf an die gemeinsame Zeit. Hier werden vor allem die konkreten Lebensumstände im Exil lebendig, die verwanzten Billighotel-Zimmer, der Versuch, trotz Armut in den Pariser Cafés am Leben teilzuhaben – aber auch Liebe, Lust und Abenteuer zweier junger, lebenshungriger Frauen. Das ist stimmungsvoll beschrieben und auch hier reicht der Text über reine Personenbeschreibungen hinaus, weil z.B. nicht nur das persönliche Erleben sondern auch die äußeren Umstände einer Abtreibung in der damaligen Zeit nachvollziehbar werden. Ruth Cerf war es auch, die große Teile des fotografischen Nachlasses von Taro sortierte und an der Rettung der Negative beteiligt war.

Auch der Blick des ehemaligen Freundes und Spanienkämpfers Georg Kuritzkes wird vielschichtig entworfen. Aus Sicht eines nun in Rom bei der UN-Organisation FAO arbeitenden Arztes werden weitere Momente aus dem Leben der engagierten aber auch selbstverliebten Fotografin Taro rekapituliert. Fast wie nebenbei gelingt es der Autorin in wenigen Sätzen, zum Beispiel die Atmosphäre verschiedener Stadtviertel in Italien wunderbar und prägnant einzufangen und gleichzeitig Kuritzkes über die Rolle der Vereinten Nationen sinnieren zu lassen.

In diesem dritten Teil beleuchtet Janeczek sehr gut die Momente von Bitterkeit, die viele Antifaschist*innen in den repressiven und antikommunistischen 50er und 60er Jahren empfunden haben dürften, wo sich der Aufarbeitung des Faschismus allzu gern verweigert wurde. Aber auch das Wiedererwachen der politischen Leidenschaft Kuritzkes während der aufflammenden antifaschistischen Demonstrationen und Arbeiterstreiks in Italien bekommt seinen Raum und ist bewegend geschrieben.

Die Liebes- und Freundschaftsbeziehung zwischen Kuritzkes und Taro hingegen erzählt auch viel über Geschlechterverhältnisse und Emanzipation einer offenbar sehr mutigen und selbstbewussten Frau. Janeczek lässt hier geschickt Einblicke in moderne emanzipierte Lebensverhältnisse einfließen, die sich Frauen wie Taro und andere in diesen Jahren nahmen und erkämpften – und die von faschistischer Ideologie massiv und zum Teil nachhaltig bis in die 50er Jahre und darüber hinaus wieder zurück gedrängt worden sind.

Eingerahmt werden die drei Erinnerungsteile des Buches von Prolog und Epilog. In diesen kleinen Texten wird Janeczek selbst zur autonomen Erzählerin und versucht sich anhand einiger abgedruckter Fotografien in ganz konkrete Situationen bzw. Lebensstationen hinein zu begeben. Es wird deutlich, dass sie über äußerst viel Material verfügt hat, unter anderem zusammen getragen von der Taro-Ausstellungs-Kuratorin Imre Schaber. Teile dieser Recherchen fließen hier mit ein, so z.B. die Geschichte des sogenannten „Mexikanischen Koffers“, in dem Negative von Gerda Taro, Robert Capa und David Seymour („Chim“) aus den Wirren des Spanischen Bürgerkriegs und vor den Faschisten gerettet werden konnten. Dieser Koffer und somit die Erinnerung an Gerda Taro tauchte erst im Jahr 2007 wieder auf. Janeczek geht hier transparent damit um, was Fakten und was Vermutungen sind – aber auch in diesen Textteilen gelingt es ihr, den Figuren sehr nahe zu kommen, so z.B. dem Mitarbeiter Gerda Taros und Robert Capas in ihrem Fotolabor, Csiki Weisz, der viele der Negative rettete und selbst ein Verfolgter war. Sie flicht hier noch viele interessante Details ein, die diese bittere Zeit der Verfolgung und Flucht und der NS-Aggression andererseits plastisch deutlich machen. Zum Beispiel gibt es den kleinen Nebensatz, dass mit dem portugiesischen Schiff Serpa Pinto zwar viele Exilant*innen fliehen konnten, auf der Rückfahrt von Rio de Janeiro jedoch auch fanatische deutsche Siedler nach Europa übersetzten, um für ihren Führer zu kämpfen…

Auch wenn wir uns wiederholen, „Das Mädchen mit der Leica“, herausgegeben vom Berlin-Verlag bei Piper ist so viel mehr als eine Gerda Taro-Biographie, es ist ein multiperspektivisch erzähltes berührendes Bildnis einer Generation, die mit viel Elan, Leidenschaft und Mut gegen den Faschismus und dagegen ankämpften, dass ihnen ihre Lebensart und sogar ihr Leben genommen werden sollte.

Die in München geborene und seit langen Jahren in Italien lebende Autorin gewann mit „Das Mädchen mit der Leica“ den wichtigen italienischen Literatur-Preis Premio Strega. Wenn wir einen solchen hätten, würden wir den „Links-Lesen-Preis“ vergeben!

Links-Lesen.de-Kollektiv Juni 2020

Ergänzung: Auf der (italienischen) Homepage der Autorin Helena Janeczek finden sich neben vielen weiteren Informationen einige Fotos von Gerda Taro sowie ein Filmausschnitt, in dem sie beim Fotografieren beim 2. Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur 1937 in Valencia zu sehen ist.

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