Die Kriegsverbrecherlobby

Was macht ein gutes Geschichtsbuch aus? Ein Kriterium wäre, sich durch Betrachtung eines konkreten Themas und der Beschreibung historischer Abläufe dem Verständnis einer größeren Epoche zu nähern – in diesem Sinne hat der Historiker und Journalist Felix Bohr mit „Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter“ ein sehr gelungenes Geschichtsbuch über die ‚Bonner Republik‘ geschrieben.

Die bei Suhrkamp veröffentlichte Doktorarbeit beleuchtet die staatliche und darüber hinaus gehende Unterstützung, die nach 1945 der in Italien inhaftierte SS-Mann Herbert Kappler und die sogenannten „Vier von Breda“ erhielten, die wegen Kriegsverbrechen in den Niederlanden im Gefängnis saßen. In Felix Bohrs Studie werden Motive, Akteur*innen und verschiedene Phasen in der Unterstützungspolitik für NS-Kriegsverbrecher aufgearbeitet. Dies geschieht sehr detail- und kenntnisreich. Die Studie betrachtet einen Zeitraum bis Anfang der 90er, in der Schlussbetrachtung werden aktuelle Fälle bis heute benannt. Der Gegenstand des Buches ist somit nicht rein historisch, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, sondern reicht bis in die Gegenwart. Dies gilt um so mehr, weil die hier beschriebene Ausprägung der Unterstützungspolitik einige Spuren in der politischen Kultur Deutschlands hinterlassen hat.

Amnestieforderungen für Mörder und Kriegsverbrecher

Felix Bohr hat den Fokus seiner Arbeit vor allem auf das offizielle und halboffizielle Handeln der verschiedenen Bundesregierungen und amtlichen Stellen gelegt, die über vierzig Jahre lang im Ausland inhaftierte NS-Täter unterstützten. Diese Unterstützung bestand in erster Linie aus Rechtshilfe, Koordinierung der Verteidigungsstrategie und ging weit über konsularische Haftbetreuung hinaus. Es wurden teure Anwält*innen bezahlt, aufwändige und kostenintensive Betreuung und Beratung durchgeführt oder finanziert, Angehörige sowohl finanziell als auch politisch unterstützt. Und immer wieder und wieder gab es direkte und indirekte Einflussnahmen auf Italien und die Niederlande, die Verurteilten doch freizulassen – also Amnestieforderungen für vor ordentlichen Gerichten verurteilte Kriegsverbrecher und Mörder… Um all diese Politiken zu erläutern und einzuordnen, wirft Bohr den Blick außerdem auf die Netzwerke, Lobbyverbände, Medien, Kirchen und einzelne Akteur*innen oder bisher eher unbekannte Personen, die hierzu beitrugen und auch eine Stimmung schufen, in der diese Unterstützung recht unhinterfragt stattfinden konnte. Er studierte hierfür viel Material, bislang größtenteils unveröffentlicht, aus Archiven mehrerer Länder, Akten aus dem Auswärtigen Amt und dem Bundesarchiv, die jahrzehntelang als „geheim“ eingestuft waren, sowie unter Verschluss stehende Akten des BND und des Bundesamtes für Verfassungsschutz.

Herbert Kappler und die „Vier von Breda“

Im ersten Teil beschreibt Bohr zunächst die von den im Zentrum seiner Studie stehenden Kriegsverbrecher begangenen Taten. Hier soll beispielhaft nur kurz das Beispiel Herbert Kapplers beschrieben werden, die ihm den Namen „Henker von Rom“ einbrachten; der SS-Angehörige war dort zunächst Polizeiattaché an der deutschen Botschaft, nach der italienischen Kapitulation wurde er zum Leiter der Sicherheitspolizei SiPo und des Sicherheitsdienstes SD befördert. Somit saß er an herausragender Position der Besatzungsmacht und war als Befehlshaber an Razzien und Deportationen jüdischer Italiener*innen federführend beteiligt. Aber auch in der sogenannten Partisanenbekämpfung wirkte Kappler eigenhändig mit und rühmte sich, zwei Angreifer direkt auf der Straße erschossen zu haben. Im Anschluss an einen Sprengstoffanschlag der kommunistischen GAP in der Via Rasella plante Kappler persönlich die als „Sühnemaßnahmen“ bezeichneten Erschießungen von 335 italienischen Geiseln in den Fosse Ardeatine. Nach Kapplers Festnahme durch US-Truppen in Tirol wurde ihm 1948 vor dem Römischen Militärtribunal der Prozess gemacht, der mit lebenslanger Freiheitsstrafe wegen Mordes endete; am Massaker beteiligte SS-Schützen wurden ausnahmslos freigesprochen. Ab November 1951 war Kappler der einzige noch in Italien einsitzende deutsche Kriegsverbrecher.

Auch die Tatberichte der „Vier von Breda“ lesen sich erschütternd, Bohr findet hier einen sachlichen aber nicht abstrahierenden oder distanzlosen Tonfall. Sowohl diese Erschütterungen als auch diese Haltung des Autors ziehen sich durch das Buch: die Schilderung diverser Details aus dem Engagement der unterschiedlichen Bundesregierungen und verschiedener Lobbygruppen, den Kriegsverbrechern größtmögliche Unterstützung zukommen zu lassen, hinterlässt selbst aus antifaschistisch-staatskritischer Perspektive, aus der heraus mensch ja viel gewohnt ist, Entsetzen – vor allem vor dem Hintergrund, wie mühsam Opfer des NS um Anerkennung oder Entschädigung kämpfen mussten und viele sie nie erhielten.

Die „Stunde Null“…

Aufschlussreich sind die Forschungen und Überlegungen, die Bohr über Motive und ideologische Muster der Unterstützungspolitik anstellt. Hier geht seine Dissertation dankenswerterweise über rein deskriptive Darstellungen weit hinaus und erhellt die bundesrepublikanische Selbstvergewisserung nach 1945: den Mythos der „Stunde Null“,die Vergangenheits- und Erinnerungspolitik aber auch die Positionierung innerhalb der weltpolitischen Lager. Der Wunsch nach Westeinbindung, NATO-Mitgliedschaft nach außen, Schlussstrich-Rhethorik und Schicksalsgemeinschafts-Propaganda nach innen greifen gut ineinander. So findet sich in politischen Gremien von konservativ bis sozialdemokratisch beinah durchgängig die Haltung, sich einerseits normativ (und oft genug nur formal…) vom Nationalsozialismus abzugrenzen, und gleichzeitig die Strafverfolgung von NS-Tätern zu verschleppen und sich für Amnestie der im Ausland inhaftierten Verbrecher einzusetzen. Auch klar antikommunistische Motive spielten eine tragende Rolle in der Aufarbeitungspolitik: so bestand in kirchlichen oder CDU-Kreisen die Sorge, dass eine flächendeckende Entnazifizierung linke Kräfte stärken würde.

Bohr spricht von begrifflicher „Verunklarung“, wenn etwa die in der Unterstützungsarbeit sehr aktive evangelische Kirche von „Zeitirrtümern“ spricht, wo NS-Verbrechen gemeint sind, oder bewusst keine Unterscheidung gemacht wird zwischen „Kriegsgefangenen“ und „Kriegsverbrechern“. Nach offiziellem Verständnis gab es bedauernswerter in erster Linie Soldaten in Gefangenschaft, aber keinesfalls deutsche Kriegsverbrecher… Ein häufig sehr positiver Bezug auf soldatische Tugenden und auf die von der sogenannten „Siegerjustiz“ scheinbar maßlos bestrafte Schicksals- und Volksgemeinschaft war besonders in konservativen Kreisen präsent. Befeuert und am Leben gehalten wurden diese ideologischen Momente von den zum Teil rechtsextremen Lobby-Verbänden wie der „VdH“ (Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen), der „Stillen Hilfe“ und der „Hiag“ (Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS), die sich ausschließlich um ehemalige SS-Angehörige ‚kümmerte‘ – der Wunsch nach einem Schlussstrich einte hier sowohl die radikalen rechten und rechtsextremen Kreise mit den konservativ-christlichen.

Bohr beschreibt neben den großen ideologischen Linien aber auch die kleinen und konkreten Schritte und Praxen, von gut bezahlten Anwälten, die Kappler und den Vier von Breda mittels Finanzierung durch die Bundesregierung zur Verfügung gestellt wurden bis hin zu „Liebesgaben“-Paketen an die Inhaftierten und durch deutsche Behörden finanzierte Kulturprogramme in den ausländischen Haftanstalten… Wenn die bezahlten Anwälte aus Sicht von Kappler nicht gut genug für seine Freilassung arbeiteten, engagierte er auf Kosten der Lobby-Verbände zusätzliche Strafverteidiger, die klar aus dem faschistischen Lager kamen.

Obwohl sich der Support der Kriegsverbrecherlobby relativ ungebrochen über einen sehr langen Zeitraum erstreckte, gab es bestimmte zeitliche Wegmarken, die Einschnitte bedeuteten. Bohr nennt hier 1961 den Eichmann-Prozess, die Debatte um Verlängerung der Verjährungsfrist, die u.a. 1965 im deutschen Bundestag ausgetragen wurde, um einer Verjährung ungesühnter nationalsozialistischer Morde zuvorzukommen (die Verjährungsfrist für Mord hatte bis dahin 20 Jahre betragen) sowie die Ausstrahlung der Serie „Holocaust“ 1979 im deutschen TV und den Historikerstreit 1986. An der grundsätzlichen Unterstützungspolitik änderte sich im Prinzip hierdurch wenig, aber sie wurde z.B. anders oder gar nicht mehr in die etwas sensibler gewordene Öffentlichkeit vermittelt; ein Kapitel bei Bohr trägt den bezeichnenden Titel: „Von der offenen zur verdeckten Hilfe“, ein anderes „Das diskrete Engagement in den Niederlanden“.

Ein gewisser Mentalitätswandel zeigt sich über die Jahrzehnte auch durch kritischere Presseartikel und mehr Stimmen aus Opferperspektive. Aber auch der sozialdemokratische Willy Brandt meinte noch mit einer Haltung „pro innere Versöhnung“ und für das „Schließen von Kriegswunden“ für die Inhaftierten eintreten zu müssen; Bohr interpretiert dies als eine Art Überkompensation, um nicht als sogenannter ‚Vaterlandsverräter‘ dazustehen und positive Wahlergebnisse zu gefährden. Die Unterstützung für die noch Inhaftierten ging also auch unter der sozial-liberalen Regierung seinen Gang, wenn auch diskreter und unter dem neutralen Titel „Rechtshilfe“. Auch unter der Regierung Kohl mit Genscher als Außenminister wurden Taschengelder an die Kriegsverbrecher gezahlt, obwohl diese durch private Spenden zu nicht unbeträchtlichem Vermögen gekommen waren, was später die Witwen der Täter erbten. Die äußerst mickrigen Renten ehemaliger Opfer des NS hingegen dürften aus antifaschistischen Aufarbeitungen und Entschädigungsforderungen bekannt sein…

Wir finden:

Bohrs Studie ist ein dicker Wälzer, der das Sich-Hinein-Arbeiten mehr als belohnt – auch über die politische Kultur Italiens und der Niederlande nach ‘45 lässt sich vieles lernen, was zu beschreiben hier zu weit geführt hätte. Hin und wieder braucht es den Blick ins Inhaltsverzeichnis, um Bohrs zum Teil verschlungenen Fäden zu folgen, aber seine Sprünge liegen auch in der Dichte und Fülle des Materials begründet.

Eine spannende Vertiefung könnte darin liegen, geschlechtsspezifische Aspekte näher zu untersuchen; Bohr selbst beschreibt Frauen als bittende oder fordernde Ehefrauen der Täter oder als tatkräftige Lobbyistinnen. Neben dem Typus der eher typisch passiven oder helfenden Akteurin agiert aber z.B. Kapplers Frau Anneliese Wenger sehr aktiv als Entführerin ihres Mannes aus italienischer Haft. Diese Tat glorifizierte sie nachträglich in einem selbst verlegten Buch mit dem Titel „Ich hole dich heim“; signierte Exemplare werden immer noch antiquarisch gehandelt… Auch die ideologischen Debatten um die Rückkehr der meist männlichen ‚Heimkehrer‘ und Kriegsgefangenen lohnen bestimmt einen intensiveren Blick auf ihre Prägung für die politische Kultur und das Geschlechterverhältnis der Bundesrepublik.

Wir empfehlen: Sich Zeit nehmen und eintauchen in bundesrepublikanische Vergangenheitspolitik – um wieder einmal festzustellen, wie fruchtbar der Boden war und ist, aus dem das kroch…

Links-Lesen-Kollektiv

P.S.: Nach jedem neuen Buchtipp kann ein Verweis auf ein schon vor längerer Zeit erschienenes Buch nicht schaden: Herbert Kappler, dessen Wirken in Rom Felix Bohrs Studie eindrücklich beschrieben hat, war einer der drei Kommissare, die den Widerständler Georg Elser nach seiner Festnahme im November 1939 in Berlin verhörten. Wer am Schicksal Georg Elsers interessiert ist, dem/der empfehlen wir wärmstens die beeindruckende und empathische Biographie von Hellmut G. Haasis: „Den Hitler jag ich in die Luft“, herausgegeben vom Nautilus-Verlag.