Westdeutsche Geschichten über den linken Aufbruch in und um 1968 können viele Schwerpunkte haben, sei es die demokratische Universitätsreform, der internationalistische Blick nach Vietnam, Iran oder Kongo, der feministische Tomatenwurf, die antifaschistische Auseinandersetzung mit der Elterngeneration oder seien es tatsächliche ArbeiterInnenkämpfe, die in der BRD spärlich waren, aber durchaus geführt wurden. Bei fast allen diesen Geschichten lautet das Ende immer gleich:
„Und dann kamen die K-Gruppen und die RAF“.
Diesen beiden prominentesten Zerfallsprodukten der Bewegung ist wiederum gemeinsam, dass in ihren Programmschriften der Maoismus „plötzlich“ als eine zentrale Ideologie auftaucht und uns mit der Frage zurücklässt: Wo zur Hölle kommt denn das plötzlich her, wo wir ihn doch bei den wichtigsten Vordenkern von 68 von Abendroth über Adorno bis hin zu Agnoli nun wirklich nicht finden können? Und dann tauchen vor dem inneren Auge diese Bilder von Demos auf, auf denen Leute jenes rote Büchlein schwenken.
Eben diesem Buch, der Mao-Bibel, haben die Herausgeber*innen Anke Jaspers, Caudia Michalski und Morten Paul den Sammelband Ein kleines Rotes Buch. Über die Mao-Bibel und die Bücher-Revolution der Sechzigerjahre gewidmet. Die Beiträge des Bandes betrachten ihren Gegenstand umfassend und aus allen möglichen und unmöglichen Blickwinkeln.
Während einige Beiträge ungewohnte Herangehensweisen liefern – etwa ein Interview mit Friedrich Forssman über die Buchgestaltung, das sich auch für nicht-Buchgestalter als durchaus lesenswert erweist, wird bei anderen Beiträgen (über Reinhart Kosellecks Mao-Lektüre von Jost Philipp Klenner) nur eine kleine Fachgemeinde, zu der ich nicht gehöre, die Relevanz beurteilen können. Die ersten vier Beiträge sind jedoch ausgesprochen lesenswert und auch politisch interessant.
Der „Leitartikel“ der Herausgeber*innen führt in die deutsche Editionsgeschichte ein und wird immer dann besonders lehrreich, wenn er es schafft Brücken zu schlagen zwischen Buch und politischer Entwicklung. Der Maoismus wird als revolutionäre Chiffre für den dritten Weg zwischen Kapitalismus und orthodoxem Sowjetkommunismus ausgemacht. Einen Exkurs macht der Artikel auch nach Frankreich, wo der Maoismus v.a. in Person von Althusser prominent in Politik und Akademie diskutiert wurde.
Der Editionsgeschichte des roten Buchs in China widmet sich Daniel Leese in seinem Artikel. Er schlägt einen Bogen von der Herausgabe der „Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung“ durch Lin Biao als Ausgabe für das Militär bis hin zu den Zitat-Schlachten zwischen Roter Garde und Partei-Establishment in der Kulturrevolution und er tut dies so geschickt, dass man nebenbei auch noch jede Menge über Chinas „Kommunismus“ unter Mao lernt.
Wieder zurück in die BRD führt der gescheite Artikel von Benedikt Sepp, der sich die Rezeption des Buches in der westdeutschen Studentenbewegung anschaut. Hier führt der Weg vom Verkauf des umsonst aus Ost-Berlin beschafften Buches durch die Kommune 1 zur Kritik im SDS durch Reimut Reiche und Dutschke, die erkannt hatten, was eigentlich auch nicht so schwer zu erkennen war: Mit der wilden Zitatesammlung konnte alles und nichts begründet werden. Sepp beschreibt dann auch die Gründung der ersten maoistischen K-Gruppe (KPD/ML) samt den darauffolgenden politischen Verirrungen.
Einen besonders spannenden Punkt macht Mascha Jacoby. Sie beschäftigt sich mit dem Versuch des westdeutschen Verfassungsschutzes, den Maoismus in BRD und! DDR zu verbreiten, um eine Spaltung innerhalb des orthodoxen „Kommunismus“ herbeizuführen. Auch wenn man eigentlich nicht überrascht sein dürfte, macht es einen trotzdem immer noch wütend mit welch unverfrorener Selbstverständlichkeit der westdeutsche Inlandsgeheimdienst demokratische Meinungsbildungsprozesse unterwanderte und dies sicherlich auch aktuell immer noch versucht. Allerdings bleibt wie immer bei solcherlei „Geheimdienstforschung“, die notwendig hauptsächlich auf Aussagen und Akten der jeweiligen Dienste angewiesen ist, unklar, inwiefern die geheimdienstlichen Allmachtsfantasie der Marionettenspielerei tatsächlich wirkmächtig war oder nur die Begleitmusik für ohnehin stattfindende gesellschaftliche Bewegung abgab.
Ein zweiter Schwerpunkt führt etwas weg vom Buch selbst und hin zur filmischen Verarbeitung, hauptsächlich in Harun Farockis 90 Sekunden-Kurzfilm „Die Worte des Vorsitzenden“ von 1967 (gibt´s auch auf Youtube). Hier fehlt mir die filmwissenschaftliche Kompetenz, die Artikel gut zu beurteilen, das Gefühl der Überinterpretation stellt sich jedoch schnell ein.
Lesenswert ist hingegen das Interview mit dem großen Filmemacher, das eines der letzten vor seinem Tod gewesen sein dürfte.
Ein Sammelband, der aus unterschiedlichsten Perspektiven kenntnisreich ins Thema einführt, wobei sich für meine politische Fragestellung nach den Wurzeln des Maoismus in der BRD vor allem die ersten vier Artikel als ergiebig erwiesen. Für Filmfreaks ist aber sicherlich auch die zweite Hälfte interessant.
Links-Lesen-Kollektiv
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