Traudl Bünger: Eisernes Schweigen
Im Oktober 1962 explodiert am Bahnhof von Verona ein Sprengsatz. Kurz zuvor war dort ein Koffer mit Zeitzünder und Sprengstoff in der Gepäckaufbewahrung aufgegeben worden. Bei der Explosion stirbt der Bahnhofsmitarbeiter Gaspare E.
Den Hintergrund dieser Tat, die Eskalationen um den Südtirol-Konflikt und die Geschichte des Rechtsterrorismus recherchiert Traudl Bünger im Buch: „Eisernes Schweigen. Das Attentat meines Vaters. Eine deutsche Familiengeschichte“.
Die Autorin Traudl Bünger wurde 1975 im Rhein-Siegkreis nahe Köln geboren – viele hunderte Kilometer von Südtirol entfernt. Dreizehn Jahre zuvor hatte ihr Vater im Zusammenhang mit dem Südtirol-Konflikt zusammen mit zwei ‚Kameraden‘ ein Sprengstoffattentat in Italien verübt. Im Buch rekonstruiert sie die Hintergründe und das Geschehen, worüber ihr Vater niemals mit ihr gesprochen hatte.
Traudl Bünger hatte ihren Vater als rechtskonservativ, aber fürsorglichen Familienvater erlebt. Als Kind waren es irritierende Bruchstücke, als Jugendliche unangenehme Befürchtungen und Erlebnisse im Verhältnis zu ihrem Vater. Der hatte seine Tochter z.B. bei rechten Sommerlagern des „Bund Heimattreuer Jugend“ angemeldet – so lange, bis sie sich dem verweigerte.
„Ich hatte einen Vater, auf den ich mich verlassen konnte […] wenn ich ihm ein Geheimnis anvertraute, war es bei ihm sicher […] Ich lernte, ihn nur nach Zahlen zu fragen, die Ereignisse vor 1933 betrafen. Und hielt vorsichtshalber einen Sicherheitsabstand von circa zwanzig Jahren ein“
Als Erwachsene schließlich gewann Bünger mehr und mehr Erkenntnisse, die ihr ein weiteres Bild ihres Vaters zeichneten: Heinrich Bünger, Chemiker und promovierter Ingenieur bei Bayer, hatte sich seit seiner Jugend und bis zum Lebensende in rechtsextremen Kreisen bewegt – und war für ein tödliches Bombenattentat in Südtirol mitverantwortlich, für das er nie verurteilt worden war. Er starb 2016 sehr plötzlich mit 81 Jahren. Heinrich Bünger selber hatte nie über seine Taten gesprochen, sondern „eisern geschwiegen„. So startet Traudl Bünger nach seinem Tod eine vier Jahre dauernde Recherche, beginnend auf dem elterlichen Dachboden, wo sich rechtsextreme Landser-Heftchen und Bücher finden, sowie Taschenuhren, umgearbeitet zu Zeitzündern.
Ihre Suche führt die Autorin in Bibliotheken und Archive, darunter das gute Antifaschistische Presse- und Bildungs-Archiv Apabiz in Berlin. Sie entdeckt die Mitgliedschaft ihres Vaters und des ebenfalls beteiligten Onkels Fritz Bünger im „BNS – Bund Nationaler Studenten“. Diese rechtsextreme Vereinigung betrieb schon früh Holocaust-Leugnung und feierte rechtsextreme Sonnenwendfeiern bei Berlin – viele später wichtige Figuren der Neuen Rechten entstammen dem BNS.
Die Tochter liest Jahrzehnte später Verfassungsschutz-Akten über das BNS-Verbot und die Hakenkreuz-Schmierwelle Anfang der 60er Jahre in der BRD, die an Synagogen begonnen hatte:
„Ich lese weiter und werde zunehmend verdrossen, wegen der schrecklichen Neonazis in den 1960ern und weil der Verfassungsschutz meinen Vater offenbar einfach nicht wichtig genug findet, um über ihn zu berichten. Ja, ich kann mir die Neonazi-Szene der 1960er Jahre vorknöpfen und gleichzeitig eine bekloppte narzistische Kränkung erleben, weil mein Vater ein zu kleines Licht für den Verfassungsschutz war“.
In diesen Momenten zeigt das Buch seine Stärken, weil es die widersprüchlichen Gefühle der Autorin ehrlich und transparent zeigt. Immer wieder sucht sie – auch in Gesprächen mit ihrem Onkel – nach Gründen, nach Entschuldigungen, nach Beweisen, dass ihr Vater kein Mörder wäre, dass ihr Vater Skrupel gezeigt hätte und reflektiert dies selbstkritisch.
Büngers Vater studierte in Bonn und wurde Mitglied bei der „Alten Breslauer Burschenschaft der Raczeks zu Bonn“. Anfang der 60er Jahre hatten sich rechtsnationale Organisationen und Aktivisten aus Deutschland und Österreich mit dem Kampf um die Unabhängigkeit Südtirols von Italien solidarisiert – so auch die Brüder Bünger. Aus dem politischen braunen Umfeld entstanden Kontakte zum sogenannten „Befreiungsausschuss Südtirol BAS“. Der BAS führte ab Mitte der 50er Jahre eine Reihe von Anschlägen durch: Sprengungen von Denkmälern, von Militärstationen und an Zuganlagen, Bombenanschläge und die sogenannte „Feuernacht“ 1961, bei der in Bozen und Umgebung 42 Strommasten gesprengt wurden. Nach Festnahmen von BAS-Mitgliedern gab es Vorwürfe über brutale Misshandlung bis hin zu Foltervorwürfen gegen die italienische Polizei – einige deutsche und österreichische Rechtsextreme fühlten sich dadurch erst recht herausgefordert, gegen Italien aktiv zu werden.
Die Bünger-Brüder gehörten genau der aktivistischen militanten Fraktion an, die sich mitten in einer Phase von Verhandlungen zum Südtirol-Konflikt dazu entschied, weitere Attentate zu begehen. Im Oktober 1962 waren sie deshalb von Köln nach Italien gestartet. Sie trafen auf den rechtsextremen österreichischen Aktivisten Peter Kienesberger, der später für einen gesprengten Strommasten auf der Porzescharte verurteilt worden war. Die drei Männer diskutierten Aktionsformen, wie z.B., den Carabinieri-Chef von Bozen umzubringen. Heinrich Bünger widersprach hier offenbar vehement. Für Traudl Bünger wird dieses Veto ihres Vaters eine wichtige Stütze in der ansonsten aufreibenden und bitteren Rekonstruktion des Bildes von ihrem Vater.
Die drei Attentäter wählten stattdessen italienische Bahnhöfe als nächtliche Zielobjekte für Sprengstoffattentate – und am 20.10.1962 stirbt daraufhin in Verona der Bahnhofsmitarbeiter Gaspare E., als der Sprengstoff nachmittags detoniert. Die Täter werden nicht gefasst und bleiben lange unbelangt.
Erst in den 80ern wurden die Brüder Bünger „wegen Sprengstoffverbrechen im Kontext des Südtirol-Konflikts“ in einem der längsten Strafverfahren in der Geschichte der BRD angeklagt, aber am Ende nicht verurteilt – zur großen Empörung in der italienischen Presse und Öffentlichkeit.
Die Akten waren wegen der Bedeutung des Verfahrens als „archivwürdig“ eingestuft worden und ermöglichten dadurch der Tochter die Recherchen dazu.
Auch wenn im Buch manchmal etwas oft der Satz vorkommt: „Diese Szene habe ich mir ausgedacht“ – die Recherche liest sich flüssig und zieht in den Bann. Das Buch ist geprägt von der Ehrlichkeit der Autorin und dem transparenten Umgang mit Lücken und Fragen, die offen bleiben. Andererseits hätte man sich hier teilweise mehr Hartnäckigkeit gewünscht bei den Themen: woher kam eigentlich der Sprengstoff? Was für rechte Netzwerke waren beteiligt und existieren bis heute? Wieso konnte der beteiligte Onkel eigentlich ein Fernsehinterview geben, obwohl nach ihm gefahndet wurde? Für Lesende mit Hintergrundwissen über deutschsprachigen Rechtsterrorismus lesen sich diese Erkenntnisse und Irritationen der Autorin sicherlich manchmal etwas sonderbar. Aber vielleicht ist diese Veröffentlichung auch gerade darum begrüßenswert, weil es eben kein klassisches Sachbuch ist, sondern es wird anhand einer Familiengeschichte parallel eine Geschichte des deutschen Rechtsextremismus und -terrorismus miterzählt. Und über das „Eiserne Schweigen“ darüber, das nicht nur in Familien, sondern auch Behörden und Medien präsent war, kann ja nie genug geschrieben werden…
Traudl Bünger: „Eisernes Schweigen. Das Attentat meines Vaters. Eine deutsche Familiengeschichte“ April 2024, Kiwi-Verlag, 384 Seiten Hardcover, 24 Euro
Zusätzlich oder als Alternative zum Buch gibt es einen Podcast mit Traudl Bünger:
Links-Lesen.de-Kollektiv im November 2024