Capital B – Zwischen Anarchie und Ausverkauf – Die Geschichte Berlins von 1989 bis heute
Florian Opitz: Capital B
Eigentlich eine 5-teilige Dokumentation – immer noch verfügbar in der ARD-Mediathek (link) – ,jetzt auch als Buch vorrätig. Es geht um nicht weniger als „die Geschichte Berlins von 1989 bis heute“, so einer der Untertitel. Der Anspruch ist nicht übertrieben. Alle, die wissen wollen, wie eine Großstadt sehr wirksam gentrifiziert werden kann, sollten das Buch lesen bzw. die Dokumentation anschauen.
Wobei: das Buch ist lediglich die in Text gegossene Doku, mit ein paar zusätzlichen bonus tracks. Eine Reihe von Protagonist*innen von linksradikal, Kulturszene über herrschende Politik bis zum RepräsentantInnen des Großkapitals kommen ausführlich zu Wort. Es geht auch um Hausbesetzungen, Sub- und Clubkultur, Widerstand und die einzigartige Geschichte dieser Stadt in den letzten Jahrzehnten.
West- und Ostberlin – zwei Städte, zwei Systeme, zwei Länder bis zum Mauerfall. Auf der einen Seite die hochsubventionierte Frontstadt quasi ohne Bourgeoisie, aber dafür mit Wehrdienstflüchtlingen aus Westdeutschland und größtem Alternativkontingent des Landes mit sagenhaft billigen Wohnungen und Kneipen ohne Sperrstunde. Auf der anderen Seite die Hauptstadt der DDR mit 1qkm Weltstadt rund um den Alex und dahinter realsozialistischem Mief, aber auch alternativen Quartieren wie Prenzlauer Berg. Der Rest der Republik schaute voller Neid auf die Hauptstadt, weil dort ja angeblich „alles“ an Ressourcen hinging.
Nach dem Mauerfall dann allgemeine Besoffenheit und deutsches Großkotztum bis zum Erbrechen. Aber die ersten hochtrabenden Pläne fahren noch gegen die Wand. Während bspw. Prenzlauer Berg durchgentrifiziert wird und ein Bevölkerungsaustausch in einer Größenordnung von ca. 80% stattfindet – die wenigen Plattenbauviertel bleiben erstmal verschont – macht man in den meisten Westberliner Bezirken weiter business as usual. Der Techno ergreift Ost wie West und ist die erste verbindende kulturelle Welle, wo es weniger auf Herkunft ankommt, als einfach Spaß miteinander zu haben. Die Hausbesetzerbewegung ist nach dem Mauerfall im Ostteil der Stadt sehr stark und präsent. Ihr wird bereits im November 1990 – lediglich sechs Wochen nach der sog. Wiedervereinigung – gezeigt, wo der Hammer hängt. 4.000 Bullen räumen 12 besetzte Häuser mit Hubschraubern, Wasserwerfern, Räumpanzern und Schusswaffengebrauch.
Mit dem Bundestagsbeschluss im Juni 1991, dass Berlin zukünftig wieder Regierungssitz ist, wird ein entscheidender Marker gesetzt, warum Berlin heute auf dem schlechtesten Weg ist, eine ähnlich mittelmäßige und langweilige Großstadt zu werden, wie viele andere es bereits seit langem sind. Mit den Parlamentarier*innen kommen Tausende Lobbyist*innen, Journalist*innen, Regierungsangestellten, Anwält*innen, Botschaftsangehörigen etc in die Stadt. Sie alle werden in der Regel viel besser bezahlt, als die meisten Alteingesessenen in Berlin und können daher locker höhere Preise auf dem Wohnungsmarkt sowie in den Kneipen und Restaurants blechen. Aber es dauert einige Jahre, bis dieser Faktor richtig durchschlägt.
Zunächst gibt es auch weiterhin Widerstand. Die wahnsinnigen Olympiapläne des Senats werden versenkt, Kreuzberg gilt nicht zuletzt aufgrund vieler brennender Luxuskarossen und anderer widerständiger Aktionen als Risikokapital.
Der zweite entscheidende Faktor der Gentrifiizierung wird die Entscheidung von EasyJet und Ryanair, in Berlin airhubs einzurichten. Fortan können alle äußerst preiswert für ein Wochenende nach Berlin kommen und hier die Sau rauslassen. Dabei darf man als welterfahrendeR Tourist*in natürlich auf keinen Fall vergessen, allen zu erzählen, wie wahnsinnig billig das Leben hier ist. Damit auch der/die letzte Vermieter*in und Gastronom*in draufkommt, doch endlich die Preise zu erhöhen.
Der dritte relevante Faktor ereignet sich im Jahr 2001. Die SPD servierte ihren großen Koalitionspartner CDU eiskalt ab und bildete bis 2011 eine sog. rot-rote Koalition mit der PDS, der Vorläuferin der Linkspartei. Eine solche wurde auch „dringend“ gebraucht. Denn u.a. durch den Berliner Bankenskandal wurden horrende Schulden sichtbar. Wo bei einem CDU geführten Senat in der Folgezeit die Demos und Aktionen gegen das Spar- und Privatisierungsprogramm erheblich größer gewesen wären, waren die Reaktionen der Straße auf die asymmetrischen Sparbeschlüsse des rot-roten Senats relativ harmlos. SPD und PDS verscherbelten alles, was in öffentlicher Hand war. Zehntausende von landeseigenen Wohnungen, Strom, Wasser, Gas – alles wurde den private equity funds zur gefälligen Spekulation und Profitmaximierung für ein Trinkgeld übergeben. Ging es mal nicht schnell genug, drängelten die Grünen zu einem noch höheren Privatisierungstempo und hatten immer auch noch eine Idee mehr, welches öffentliche Gut verschenkt oder billig verkauft werden sollte. Die CDU – Hauptverursacher dieser Krise – konnte sich auf der Oppositionsbank gemütlich zurücklehnen – lief ja.
Als vierter und letzter Grund wird auf die Weltfinanzkrise von 2008 verwiesen. Auch wenn die Börsenkurse vorübergehend in den Keller gingen, war weiterhin viel zu viel Geld in viel zu wenig Händen. Wohin damit? Weltweit wurde nach lukrativen Anlagemöglichkeiten geschaut. Unter anderem wurden die private equity fonds und andere in Berlin fündig. Im Vergleich zu anderen europäischen Metropolen waren Mietshäuser geradezu spottbillig. Also kaufen, kaufen, kaufen. Und natürlich auf rasante Wertsteigerung spekulieren. Mit den bekannten Folgen.
Wem und welcher das alles noch nicht reicht, um den Klassenhasspuls nach oben zu treiben, wird noch mit ein paar schönen Schmankerln überrascht. Wie z.B. Isa Gräfin von Hardenberg mitsamt Gatte Andreas natürlich auch von und zu von ihren Bekannten bedauert wurden, als sie 1995 beruflich nach Berlin ziehen mussten. Dort „spielte das Gesellschaftliche keine große Rolle“. Also gründete sie eine Eventagentur mit „jungen Hostessen, die aus gutem Haus kamen, sich benehmen konnten und die sprechen konnten. Da gab es eine A-, eine B- und eine C-Liste von diesen Mädchen. Meine Söhne haben immer drin gestöbert, wen sie für sich selbst erobern können.“
Seltsam auch, warum Thilo Sarrazin erst mit dem Erscheinen seines ersten Buches 2010 als verhaltensauffällig eingestuft wurde. Schon 2002 als Berliner Finanzsenator wollte er von der Justizverwaltung wissen, warum die Gefängnisbetriebe rote Zahlen schrieben. Denn „die SS-Betriebe haben doch auch Plus gemacht in den KZs“…….
Tolle TV-Dokumentation – tolles Buch.
Florian Opitz: „Capital B. Zwischen Anarchie und Ausverkauf – Die Geschichte Berlins von 1989 bis heute“ // Mai 2025 // 400 Seiten, gebunden, mit zwei farbigen Tafelteilen // Tropen-Verlag // 26,-€
Links-Lesen.de-Kollektiv im Oktober 2025